GRENZGEBIETE
von Jürg Leutert
In unserem Gesangbuch findet sich „Christ ist erstanden“ als erstes Osterlied unter der Nummer 66. Wer sie aufschlägt, wird einige Überraschungen erleben, wenn er damit die norwegisch / dänische Variante vergleicht. Außer der ersten Zeile, der dreistrophigen Form und dem Thema Ostern ist wenig gemeinsames zu finden; auf alle Fälle scheint keine gewöhnliche Übersetzung dahinter zu stecken.
Folgende Unterschiede sind auf den ersten Blick erkennbar: Nur in unserer Version erscheint Kyrieleis als Schlusszeile in jeder Strophe. Im Dänischen bzw. Norwegischen heißt es in der Schlusszeile jeder Strophe „Ehre sei Gott in der Höhe“.
In unserer Version gibt es Textwiederholungen in der 1. / 3. Strophe: „Des solln wir alle froh sein,
Christ will unser Trost sein.“ In der dänischen/norwegischen Variante gibt es Textwiederholungen in allen Strophen außer in der zweiten Zeile. Auch die Silbenzahl pro Zeile weicht in der deutschen gegenüber der dänischen/norwegischen Fassung ab (deutsch: 5 / 6 / 7 / 6 / 4 < > dänisch/norwegisch: 6 / 7 / 8 / 8 / 9).
Kaum zu glauben, dass beide Varianten den gleichen Ursprung haben!
Es folgen einige Gedanken, die Teile meiner Faszination und Freude an diesen Texten erklären:
„Christ ist erstanden“ gilt als eines der ältesten deutschsprachigen Kirchenlieder. Seine Geschichte geht in die vorreformatorische Zeit zurück. Den Ursprung finden wir in einem Teil der lateinischen Ostersequenz „Victimæ pasquali laudes“ von Wipo von Burgund († nach 1046). Die Sequenz ist heute noch ein obligatorischer Bestandteil der katholischen Liturgie der Ostersonntagvormittagsmesse. Geboren wurde Wipo in der Schweiz oder im Burgund. Er war ein gebildeter Dichter und Geschichtsschreiber. Die ältesten Varianten der Sequenz sind in den Klöstern Einsiedeln und Rheinau überliefert. Gegen Ende seines Lebens zog sich Wipo als Einsiedler ins bayrisch-böhmische Grenzgebiet zurück. Stammt zufällig von dort die deutsche Übersetzung, die zum ersten Mal um 1100 dokumentiert ist?
Bald wird sie in Liturgien als obligatorischer Bestandteil erwähnt und damit zum wahrscheinlich ersten deutschsprachigen Kirchenlied in vorreformatorischer Zeit. Sie wurde oft im Wechsel mit der lateinischen Originalform „Victimæ pasquali laudes“ gesungen und fand im 13. Jahrhundert rasch Verbreitung.
Luther formte sie zu scheinbar endgültigen Varianten: „Christ ist erstanden“ (RGB 66) kurz und „Christ lag in Todesbanden“ (nicht im RGB zu finden) lang. Luther liebte dieses Lied sehr: „Alle Lieder singt man sich mit der Zeit müde, aber das ‚Christ ist erstanden‘ muss man alle Jahr wieder singen“. Es wurde zu einem unserer Stammlieder, das nach der Reformation seinen Weg in die meisten Gesangbücher fand.
In meiner Betrachtung gilt der nächste Halt Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783–1872). Er zeigte mir neue Perspektiven auf das mir wohlbekannte und vertraute Lied. Hier erklärt sich mein kursives scheinbar im vorigen Abschnitt: Durch Grundtvig bekam dieses Lied in Skandinavien ein neues, eigenes Gesicht; das traditionelle Stammlied „Christ ist erstanden“ geriet dort damit in den Hintergrund.
Grundtvig, dänischer Theologe und Wissenschaftsmann, prägte seine Zeit und sein Land massiv durch sein Wirken als Theologe, Pädagoge, Sprachwissenschafter und Politiker. Er entwickelte sich vom konservativen Lutheraner zum Reformer: Menneske først – kristen så (erst Mensch – dann Christ). Er setzte sich u. a. für Religionsfreiheit ein und unterstützte die in seiner Zeit aufblühende Frauenbewegung. Wegen seinem radikalen Denken wurde er der Zensur unterlegt – sie währte ganze 11 Jahre. Er verfasste u. a. 1600 (!) Liedtexte. 1861 wurde er zum Primas der dänischen Kirche ernannt. Zahlreiche seiner Lieder sind nicht mehr aus skandinavischen Gesangbüchern wegzudenken. In unserm Gesangbuch finden wir „nur“ einen Gebetstext unter der Nummer 626 zum Thema Kirche. Dabei handelt es sich um einen Liedtext, der in Skandinavien oft als Choral gesungen wird.
Im Norden wurden sehr bald nach der Reformation Stammlieder in die dem Volk eigene (dänische/norwegische, schwedische, finnische) Sprache übersetzt und in Gesangbüchern zusammengefasst. Dazu kommen zahlreiche eigene Lieder, auch oft geistliche Volkslieder, deren Ursprung nicht ohne weiteres festzulegen ist. Weiter prägen Einflüsse aus anderen Traditionen wie der anglikanischen das Liedgut. Übersetzte Lieder aus der eigener Tradition bilden ein buntes, inspirierendes Gemisch.
Scheinbar: Unser „Christ ist erstanden“ wurde von Grundtvig gründlich geknetet, umgeformt und umgepolt. Seine Neukonzeption war so eigenwillig, dass ich beim erstmaligen Lesen der Quellenangabe am Ende des Liedes nicht glauben konnte, dass es sich um eine „Übersetzung“ des von Luther so geliebten Liedes handelte. Erst durch Suchen und Nachlesen wurden mir diese Zusammenhänge klarer. Grundtvig entfesselt das Lied: er formte aus der stillen, archaischen Leise (von „Kyrieleis“ als Abschluss jeder Strophe) ein mächtiges Gloria – einen Lobgesang – auf das Osterwunder. Die dreimalige, im ersten Augenblick banal wirkende Wiederholung fast aller Zeilen (außer der zweiten) steigert das jeweils abschließende Gloria der (hoffentlich) singenden Engel aus der Weihnachtsbotschaft an die Hirten (Gloria in excelsis Deo = Ehre sei Gott in der Höhe) zu einer unerhörten Fanfare. Die drei sich verändernden Zeilen (nicht unähnlich dem Weihnachtslied „Oh du fröhliche“!) steigern sich von einer Naturbetrachtung am Ostermorgen (Morgenröte) über die theologische Feststellung (unsere Sünden sind gesühnt) zur Vision (im Himmel werden wir ihm begegnen).
Am Ostermorgen erklingen in der katholischen Tradition alle Glocken nach ihrem Schweigen seit Karfreitag beim Anstimmen des Gloria / Ehre sei Gott zum ersten Mal wieder. Sie setzen ein Zeichen für uns alle: Ostern und damit die Verbreitung der frohen Botschaft ist das wichtigste Ereignis für jeden Christenmenschen.
Im dänisch-deutschen Grenzbereich wurde 2015 das erste gemeinsame zweisprachige Gesangbuch der evangelischen Kirchen (Schleswig-Holstein und Dänemark) herausgegeben. Darin wird der Text von Grundtvig auf Deutsch zurückbuchstabiert. Im Vorwort des Buches lesen wir: Wir verweisen für friesische und plattdeutsche Lieder auf eigene Gesangbücher. Sprachliche Minderheiten werden hier offenbar wahrgenommen und geschätzt!
Davon, dass das Osterlied in unserer Zeit Spuren hinterlässt und eine Sprengkraft hat, zeugt Kurt Martis eigenwillige Transformation der Leise. Ihr gilt mein dritter Halt: Er führt 1970, wahrscheinlich ohne Grundtvigs Oster-Gloria zu kennen, den Satz der Engel sinngemäß zu Ende: „….und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“: Wir mögen uns gemäß Christi Vorbild nicht zufrieden geben mit himmlischem Frieden, sondern dafür einstehen, dass bereits auf Erden Friede und Gerechtigkeit walte. Er denkt damit Grundtvigs Gedanken radikal zu Ende und spricht durch sein Anderes Osterlied deutlich aus, was auch für uns immer gelten sollte: Mensch erst – dann Christ.
Anderes Osterlied
von Kurt Marti, 1970
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn erst nach dem Tod Gerechtigkeit käme,
erst dann die Herrschaft der Herren,
erst dann die Knechtschaft der Knechte
vergessen wäre für immer!
Das könnte den Herren der Welt ja so passen,
wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe,
wenn hier die Herrschaft der Herren,
wenn hier die Knechtschaft der Knechte
so weiterginge wie immer.
Doch ist der Befreier vom Tod auferstanden,
ist schon auferstanden und ruft uns jetzt alle
zur Auferstehung auf Erden,
zum Aufstand gegen die Herren,
die mit dem Tod uns regieren!
Jürg Leutert ist seit 2015 Musikwart der evang. Kirche A.B. in Rumänien. Nach der Ausbildung als Organist in der Schweiz und in Holland arbeitete er zuerst einige Jahre in Meilen am Zürichsee als Kirchenmusiker. Danach wirkte er zusammen mit seiner Frau Brita 17 Jahre auf den Lofoten (Nordnorwegen) als Musiker. Neben der Orgel und dem Chorgesang ist das Musizieren auf ungewöhnlichen Instrumenten eine reizende Nebenbeschäftigung. Alte Musikhandschriften und historische Instrumente üben eine große Anziehungskraft auf ihn aus.