von Dr. Ágnes Ziegler
Die Kanzel und der Altar der Schwarzen Kirche könnten hinsichtlich der Botschaft, die sie uns durch ihren Bildschmuck mitteilen, nicht unterschiedlicher sein! Die Kanzel wurde 1696, unmittelbar nach dem großen Brand (1689), errichtet. Ihre Bilder teilen uns Betrachtern gemeinsam eine Botschaft mit, die der damalige Stadtpfarrer Marcus Fronius für die allerwichtigste hielt: Die Menschen Kronstadts hätten vor dem Brand in Sünde gelebt und sich von Gott abgewandt. Gott habe die Stadt deshalb, wie einst Sodom oder Jerusalem, mit Feuer heimgesucht. Nun sei es notwendig, dass sich die Menschen ihrer Sünden entledigten und zu Gott zurückkehrten.
Man muss die Darstellungen auf der Kanzel nacheinander von unten nach oben lesen, um diese Botschaft zu erfassen: Wir müssen unser Leben auf der Heiligen Schrift aufbauen (Moses mit Gesetzestafeln und Evangelistensymbole), die Sünde ausmerzen (zentrales Medaillon mit Darstellung der Bibelstelle (Mt 10,13), und dem siegreichen Christus folgen (Christus auf Schalldeckel; Lamm Gottes als Relief darüber). Die Szene auf der Pforte zum Treppenaufgang zeigt die Berufung des Jeremia (Jer 1,9-19) und wendet sich an den Prediger: Wie einst Jeremiah solle er die Gläubigen vor Sünde und Gottes Zorn warnen und ihnen den Weg zu Gott weisen.
Der Altar ist hingegen viel später, im 19. Jahrhundert, entstanden. Sein Bildprogramm hält eine ganz andere Botschaft bereit. Das Mittelbild zeigt Christus bei der Bergpredigt. Die Skulpturen rund um das Mittelbild stellen die Apostel Petrus und Paulus und die vier Evangelisten dar. Unter dem Mittelbild sind Martin Luther, Philipp Melanchthon und die Szene zu sehen, in der der Stadtrat die Reformation in Kronstadt einführt.
Die Unterschiede zwischen den Bildern der Kanzel und jenen des Altars zeigen, wie sehr sich die evangelische Frömmigkeit zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert in unserer Gemeinde verändert hat. Im 19. Jahrhundert hielt die Gemeinde es nicht für prioritär, an Gottes Strafgericht erinnert zu werden. Stattdessen führt uns der Altar einen sanftmütigen Christus als abgeklärten Lehrer des Glaubens vor Augen, und auch die restlichen Darstellungen versammeln ausschließlich große Glaubenslehrer.
Im Augsburger Bekenntnis sind die Botschaften von Kanzel und Altar beiderseits vorgegeben: Sünde, Strafe, Christus als Mittler zu Gott, Erlangung des Glaubens auch durch Belehrung (Predigtamt, Evangelium, Sakramente). Unser Vergleich zeigt aber, wie unterschiedlich unsere Gemeinde diese Überzeugungen zu unterschiedlichen Zeiten gewichtete! Im 17. Jahrhundert sollten die Gläubigen dadurch geläutert werden, dass sie eindringlich an Gottes Strafgericht erinnert wurden. Im 19. Jahrhundert hoffte man, die Kirchgänger mit andern Mitteln zu läutern: Man ermutigte sie, Christus und den Glaubenslehrern wie lernbegierige Schüler zu folgen. „Evangelisch-Sein“ in Kronstadt bedeutete im 17. Jahrhundert also noch, das göttliche Strafgericht tüchtig zu fürchten. Im 19. Jahrhundert beinhaltete es vielmehr, in die Liebe Gottes und auf die eigene Lern- und Erkenntnisfähigkeit zu vertrauen. Sind wir heute bereit, beides gleichgewichtig im Bewusstsein zu halten?
Dr. Ágnes Ziegler