So um Dezember …
(Für Lee)
von Mascha Kaléko
Weißt du noch …? In zarten Wintertupfen
Schüttete der Himmel ersten Schnee.
Puttel tat der Hals ein bißchen weh,
Und du hattest den Dezemberschnupfen.
Weißt du noch, es war so still im Zimmer.
Schularbeiten waren längst gemacht.
Überm Frost lag sanft Lamettaschimmer.
Beckers unten übten „ … Stille Nacht!“
Weißt du noch, wir sollten´s noch nicht wissen
Aus dem Schubfach roch´s nach Marzipan …
Und wir „staunten“ – schurkenhaft gerissen –
Als wir dann die „Überraschung“ sahn.
Deine „Tilda“ hatte echte Haare!
– Ach, und Pu, mein süßer Elefant,
Der so lang im Kaufhausfenster stand.
Mein war Pu! Und ich war sieben Jahre.
Nächsten Tag um vier war Schulaufführung,
Und ich machte mit beim Elfentanz.
Und ganz vorne saß der Onkel Franz
Und der sah mich in der Goldverschnürung!
Mutti lachte über die Frisur.
Vater brummte nur: „ … du eitle Ratte!“
Doch er sagte nichts zu der Zensur,
– Wo ich doch ´ne Vier in Rechnen hatte.
Abends gab es dann noch Tee mit Rum
Und das Glück im Märchen-Grimm zu lesen.
– Damals hieß man nur noch klein und dumm,
… „Groß“ und „klug“ ist´s nie so schön gewesen.
„„GROSS“ UND „KLUG“ IST´S NIE SO SCHÖN GEWESEN“, ODER WIE LIEST SICH HEUTE EINE IDYLLE AUS DEN DREISSIGER JAHREN
von Benjamin Józsa
Es ist ein stilles Gedicht, das Mascha Kaléko im „Kleinen Lesebuch für Große“ 1934 veröffentlicht. Da wird keine Tanne „lichterheilig“, da glänzt nichts „hehr“ und schaut „heil´g“. Es sind intime Verse, bei denen sich der Leser fast als Eindringling fühlt.
Die Sprache ist einfach, ganz so, wie es sich für die „Neue Sachlichkeit“ gehört, deren weiblicher Vertreter Kaléko war. Sie spricht von familiären Dingen, von Halsweh und Dezemberschnupfen, von Geschenken und Schulaufführung. Die Zeit ist nicht präzisiert, „so um Dezember“ weist in eine vage Erinnerung an die längst verflossene Vergangenheit. Das Gedicht erzählt in alltäglichen Bildern, doch reichen wenige Worte, um eine winterliche Vorweihnachtsstimmung aufkommen zu lassen und den Leser zurückzuführen in die eigene Kindheit, in der jeder seine eigene Version von „Tilda“ mit den echten Haaren und „Pu“ dem Elefanten hat.
Ein kleines, häusliches Glück leuchtet auf, mit Tee mit Rum und „Märchen-Grimm“ bis man die letzten beiden Zeilen liest und sich mit den Augen von heute vergegenwärtigt, an welcher Zeitscheide der Gedichtband erschienenen ist. Fast hellsichtig erscheint es, wenn es heißt
„- Damals hieß man nur noch klein und dumm,
… „Groß“ und „klug“ ist´s nie so schön gewesen.“
Mascha Kaléko nimmt wohl nur die kleinen Unzulänglichkeiten des Erwachsenenlebens vorweg, Beziehungsprobleme, ungeliebte Arbeitsplätze und dergleichen mehr. Doch schon bald sollte die Autorin schmerzlich erfahren, was „groß“ und „klug“ noch bedeuten kann. Das erfolgreiche „Lyrische Stenogrammheft“, das zunächst der Bücherverbrennung 1933 entgangen war, weil die Nazis wohl nicht wussten, dass Mascha Kaléko Jüdin war, wurde zusammen mit dem „Kleinen Lesebuch für Große“ als „schädliche und unerwünschte Schriften“ verboten und die Autorin in die Emigration gedrängt. Diese führte sie zunächst 1938 in die Vereinigten Staaten von Amerika und schließlich nach Israel. Alles in allem hatte sie noch das Glück gehabt, ihr nacktes Leben zu retten, ein Umstand, der Millionen Menschen später nicht vergönnt war.
Kann man dieses Gedicht noch als bloße Gebrauchslyrik lesen? Jedes gute Gedicht hat zwei Eigenschaften: es beleuchtet die uns bekannte Welt mit einem anderen Licht und stößt die Türe zu einer neuen, unbekannten Welt auf. Die im Gedicht beschriebene Welt unserer Kindheit kennen wir alle, sie ist uns allen ein unveräußerlicher Schatz. Die Barbarei der Vergangenheit ist eine unbekannte (und für viele undenkbare) Welt, die sich unserem heutigen Verständnis entzieht. Doch ist es gerade für uns Nachgeborene von großer Wichtigkeit, zu wissen, dass es mal Zeiten gab, „wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“, wie Brecht es ausdrückte. Und es ist nicht der schlechteste Weihnachtsgedanke, alles Menschenmögliche zu tun, dass diese Zeiten nie wiederkehren.
Benjamin Józsa, Absolvent der Philologiefakultät der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt/Sibiu, ist Geschäftsführer des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien und Verlagsleiter des Honterus-Verlags in Hermannstadt. Foto: Scott Eastman