Ein Winterabend
von Georg Trakl
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
AUS ALLJÄHRLICHER VERLORENHEIT
von Frank-Thomas Ziegler
Die sanfte Stimmung in Georg Trakls „Winterabend“ steht in krassem Gegensatz zum bewegten Leben des jung verstorbenen Dichters. Trakl wurde 1887 in Salzburg in eine gutbürgerliche Großfamilie geboren. Die Mutter konnte, wohl ihres Drogenkonsums wegen, nur ein labiles Verhältnis zu ihren Kindern aufbauen. Die angespannte Beziehung wirkte sich prägend auf Trakl aus: Mit der feingliedrigen Empfindsamkeit des Heranwachsenden ging zeitlebens eine heikle Seelenverfassung einher. Gegen Ende seiner Schulzeit näherte auch er sich Drogen und Alkohol. Er griff zur Feder und lernte wegweisende Vertreter der deutschsprachigen Avantgarde kennen. Beim Aufbau einer Berufskarriere tat er sich schwer, hielt es kaum mit einer Anstellung aus. Trakl versuchte schließlich Tätigkeiten im Medikamenten- und Sanitätswesen, die ihn bereits im September 1914 als Militärapotheker geradewegs in das Grauen des Ersten Weltkrieges an die Front in Galizien führten.
Hans Eder: Hochzeit zu Kana, 1933.
Kronstadt, Schwarze Kirche
Den infernalischen Erlebnissen hielt er nicht lange stand. Auf dem Rückzug nach der Schlacht von Gródek beging er einen ersten Selbstmordversuch. Er überlebte ihn und wurde in die psychiatrische Abteilung des Garnisonsspitals in Krakau eingeliefert. Hier starb er im November 1914 an einer Kokainvergiftung.
Wie der Maler Franz Marc gehört Trakl zu jenen herausragenden Künstlern der europäischen Avantgarde, deren Leben und Schaffen dem Ersten Weltkrieg jäh zum Opfer fielen. Wer den Krieg hingegen überlebte, fühlte sich oft durch die apokalyptischen Erfahrungen seelisch verstümmelt. Ernst Ludwig Kirchner, einer der bedeutendsten expressionistischen Künstler Deutschlands, malte 1915, nach Nervenzusammenbruch und anschließender Entlassung aus dem Kriegsdienst, sein „Selbstbildnis als Soldat“ . In voller Uniform steht er im Atelier: der Krieg hat ihn bis in sein Künstlerdasein hinein, bis in sein Innerstes verfolgt. Die rechte Hand stellt Kirchner als amputiert dar, um damit anzudeuten, dass der Krieg seine Schöpfungs- und Schaffenskraft vernichtet habe. Die Wandlung des Künstlers zum Soldaten hat auch für das Aktmodell im Hintergrund Konsequenzen: In den Zusammenhang mit dem Militär gebracht, degeneriert es zur Trosshure.
Georg Trakls „Winterabend“ entstand im Dezember 1913 und lässt sich wie eine kleine, brillante Weihnachtserzählung lesen. Wir schreiten, Zeile für Zeile, Strophe um Strophe aus dem Dunkel in die Helligkeit. Die äußere Welt ist nicht feindlich. Ihr Dunkel gehört, wie das Licht, zur Schöpfung dazu. Der ans Fenster nieselnde Schnee legt von ihrer unendlichen Zartheit Zeugnis ab. Alle anderen Bewegungen und Geräusche der Welt scheinen zur Ruhe gekommen zu sein. Dann läutet die Abendglocke einer nahen Kirche den Teil des Tages ein, der der Ruhe und Einkehr vorbehalten ist. Das „Haus ist wohlbestellt“ und der Tisch in Erwartung zahlreicher Menschen gedeckt; eine Atmosphäre feierlicher Erwartung macht sich bemerkbar.
Die zweite Strophe bringt die Gäste heran. Ans Tor treten sie, die Wanderer, die „auf dunklen Pfaden“ gingen. Wir denken an das Heilige Paar auf Herbergssuche, dann aber bald auch an alle, die aus dem Beschwerlichen, aus dem Unbekannten und Gefährlichen, aus der Unbehaustheit und Verfolgung, aus den lichtlosen Räumen der menschlichen Existenz kommen. Wir denken an all jene Außenseiter, alle Randfiguren, alle Sünder, alle Leidenden, die darum ringen, aus der Not in die Errettung zu finden.
Sie alle, die reinen Herzens Einlass suchen, erwartet der golden blühende „Baum der Gnaden“. Darin vermuten wir unweigerlich den Christbaum, das immergrüne Zeichen christlicher Hoffnung. Es schwingt aber auch ein anderes, viel älteres christliches Bild mit, das vom „Lebensbaum“ im Paradies: Wer von seinen Früchten isst, hat das ewige Leben. Nachdem das Menschengeschlecht durch den Sündenfall den Zugang verspielt hatte, eröffnete Christus ihn wieder für uns. Dieser „Baum der Gnaden“ blüht, wie das Gedicht verrät, auch im Schnee, „aus der Erde kühlem Saft“ – er ist unvergänglich und den wahrhaftig Suchenden immer erreichbar.
„Wanderer tritt still herein“ – die abschließende dritte Strophe lädt die Herbeitretenden ein, demütig an den Tisch der Gaben zu treten. Die Tischgesellschaft wird aber durch eine von „Schmerz versteinerte (…) Schwelle“ gespalten – ein plastisches Bild für ein Zerwürfnis, das sich durch langjährige Kränkung festgefahren hat. Ein Bild für einen Bruch, wie er Gott und die Menschen seit dem Sündenfall bis hin zu Christi Versöhnungswerk mit allen Härten trennte. Für all die, die Reue spüren, ist der Tisch festlich mit Brot und Wein gedeckt. Sie müssen demütig und „bereit“ sein, das „Haus wohlbestellt“ haben; mit anderen Worten: Sie müssen in ihren Leben Ordnung gemacht und es in die Hände Gottes gelegt haben. Trakls Reden vom „wohlbestellten Haus“ ruft Jesajas Mahnung in Erinnerung, die J.S. Bach donnernd im Actus Tragicus (Kantate 106) vertonte: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben“ (Jes 38,1).
Das Mahl, zu dem geladen wird, ist ein echtes Abendmahl. Gastgeber ist Christus. Brot und Wein sind Sinnbilder der leiblichen Verbündung mit ihm und der Versöhnung mit Gott. Der Wanderer, der beschloss, sich aus dem Dunkel zu lösen, ist, nachdem er über die Schwelle trat, Buße ablegte und Aussöhnung erlangte, am Tisch des Herrn angekommen.
Im Grunde haben die melodiösen Verse des „Winterabends“ eines zum Thema: die tiefe Sehnsucht danach, trotz der eigenen Fehlerhaftigkeit von Gott und den Menschen angenommen zu werden. Sie mögen einem Dichter gehören, der seit Kindesbeinen um eine brüchige mütterliche Liebe und auch später um die Existenz ringen musste. Aber sie gehören nicht einem Dichter, dem es gelungen wäre, seinen Scharfsinn durch Drogen und Alkohol nachhaltig abzudämpfen. Welche unglaubliche Frische doch die altbekannten christlichen Bilder angenommen haben, die der junge Trakl vor uns da ausbreitet! Was für ein wohltuender Mangel an Pathos! Ich kann meine Begeisterung darüber kaum in Worte fassen, mit welcher Geschicklichkeit er im „Winterabend“, fern von „Kindlein fein“ und „Krippelein“, von „Ochs“ und „Eselein“, fernab jeder volkspädagogischen Babysprache uns, die Leser, aus alljährlicher Verlorenheit zur allerhöchsten Bedeutung des Weihnachtsfestes und der Christgeburt, zum ultimativen Friedensangebot Gottes, hinführt:
„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“
Frank-Thomas Ziegler
Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
der Evangelischen Kirche A.B. Kronstadt