Die osmanischen Teppiche Siebenbürgens sind, soweit sie echt sind, wahre Glanzstücke der Kirchenburgenlandschaft. Die Siebenbürger Sachsen benutzten sie nämlich nicht nur in ihren Haushalten als Tischdecken oder Wandschmuck, sondern auch – äußerst systematisch – in ihren Kirchen bei Gottesdiensten, Taufen, Hochzeiten und Begräbnissen. Einmal ins kirchliche Brauchtum aufgenommen, wurden sie sorgfältig gehütet. So kam es, dass diese hochsensiblen Textilien bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe nur noch in den evangelischen Kirchen der Siebenbürger Sachsen erhalten geblieben waren. Bald wurden sie als typisch siebenbürgisch-sächsisches Kulturgut, als Alleinstellungsmerkmal der Siebenbürger Sachsen, wahrgenommen und stiegen zu echten Identifikationssymbolen auf, sodass sich zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auf Gemälden und Fotografien vor oder mit osmanischen Teppichen porträtieren ließen, um dadurch ihre Zugehörigkeit zur siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft feinsinnig zum Ausdruck zu bringen.
Den größten Bestand dieser Art von Teppichen – etwa 200 Stück – bewahrt die Evangelische Kirche A.B. Kronstadt an ihrer Schwarzen Kirche. Der zweitgrößte Bestand umfasste 59 Teppiche und Teppichfragmente und befand sich einst in der Stadtpfarrkirche von Bistritz. 1944 wurden die Teppiche evakuiert und gelangten über Zwischenstationen 1952 an das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (GNM).
Die Evakuierung und die politischen Spannungen des Kalten Kriegs machten eine wissenschaftliche Auseinandersetzung lange Zeit unmöglich. Das Ende des Kalten Krieges und die Unterzeichnung eines neuen Leihvertrags zwischen der Nachfolgegesellschaft des Generaldekanats Nordsiebenbürgen und dem GNM ebneten jüngst den Weg für eine grundlegende Erforschung des Bestands. Von 2017 bis 2020 konnte das GNM den Bistritzer Teppichen ein großangelegtes Forschungsprojekt widmen. Jetzt liegen die Ergebnisse in Form eines frei im Internet zugänglichen Bestandskatalogs vor. Es besteht Grund zum Feiern, denn bei diesem Katalog handelt es sich um die erste wissenschaftliche, wunderbar gelungene Bearbeitung des Bistritzer Bestandes überhaupt.
Ganz anders als in Bistritz verlief die Rezeptionsgeschichte der Teppiche der Schwarzen Kirche in Kronstadt. Ihnen blieb die dauerhafte Evakuierung erspart; sie befanden sich während des 20. Jahrhunderts vor Ort im Mittelpunkt der Kirchengemeinde, sodass ihnen konservatorische und wissenschaftliche Bemühungen fortlaufend zuteil wurden. Die Reihe der Persönlichkeiten, die zu Erhalt und Kenntnis der Kronstädter Teppiche in entscheidendem Maße beitrugen, reicht von Ernst Kühlbrandt über Emil Schmutzler, Albert Eichhorn und Era Nussbächer bis hin zu der Kunsthistorikerin Evelin Wetter und Ágnes Ziegler, die 2014 gemeinsam neu entdecktes, bedeutendes Quellenmaterial auswerteten und publizierten.
Die Kronstädter Erkenntnisse – etwa solche, die die neuzeitliche Nutzung der Teppiche an der Schwarzen Kirche und ihre moderne Rezeption einschließlich der Entwicklung zum Identifikationssymbol betreffen – standen dem Nürnberger Forschungsprojekt auf gewinnbringende Weise zur Verfügung. Ganz unmittelbar fließen die Kronstädter Forschungen in Gestalt eines Aufsatzes in den Nürnberger Katalog ein, den Stephanie Armer und Anja Kregeloh gemeinsam mit der Konservatorin der Schwarzen Kirche verfassten. Darin gehen sie der spannenden Frage nach, wie die Teppiche in Bistritz und Kronstadt innerhalb des Glaubenslebens genutzt wurden. Im Rahmen dieser gemeinsamen Betrachtung zweiter örtlicher Situationen werden sowohl die überregionalen Parallelen als auch die Unterschiede der kirchlichen Nutzung osmanischer Teppiche auf faszinierende Weise fassbar.
Freilich ist dieser Aufsatz nicht die erste Gelegenheit, bei der das Germanische Nationalmuseum und die Evangelische Kirche A.B. Kronstadt hinsichtlich der osmanischen Teppiche zusammenarbeiten. Als die Honterusgemeinde 2010 das internationale Fachkolloquium „Sanierung biozidkontaminierter und anthropogen umweltbelasteter osmanischer Teppiche in siebenbürgischen Kirchen” (Kronstadt, 30.-31. Juli 2010) ausrichtete, konnte Dr. Jutta Zander-Seidel, damalige Leiterin der Sammlung Textilien, Kleidung und Schmuck am GNM für die Teilnahme gewonnen werden. Im Juni 2018, als das Forschungsprojekt zu den Bistritzer Teppichen eben an Fahrt gewonnen hatte, besuchte das aus Anja Kregeloh, Stefanie Armer und Eva Hanke bestehende Forschungsteam die Schwarze Kirche, um den Austausch zu vertiefen. In der Folge blühte die Zusammenarbeit auf; die Idee zu einem gemeinsamen Katalogbeitrag entstand, und die Kirchengemeinde konnte dem Forschungsprojekt darüber hinaus zuarbeiten: Der Kronstädter Zeichenlehrer und Teppichkenner Ernst Kühlbrandt (1857– 1898) hatte sich nämlich vorübergehend auch mit dem Bistritzer Bestand beschäftigt, und die Konservatorin der Schwarzen Kirche suchte nun aus seinem Nachlass, der im Gemeindearchiv bewahrt wird, Aussagen heraus, die sich auf die Teppiche aus Bistritz beziehen.
Selbstredend bereichert der neue Bestandskatalog der Bistritzer Teppiche im Umkehrschluss auch das Wissen über die osmanischen Teppiche der Schwarzen Kirche. Das Forschungsteam, verstärkt durch Oana Sorescu-Iudean aus Klausenburg, konnte zahlreiche Archivquellen zutage fördern, die eine Fülle von Erkenntnissen zu der Verwendung der osmanischen Teppiche in den Haushalten und in der Stadtpfarrkirche von Bistritz bieten und dadurch das Bild, das wir dank der Kronstädter Forschungen bereits besaßen, ergänzen. Von Interesse ist auch die abweichende Restaurierungsgeschichte der Bistritzer Teppiche: Während der Bestand der Schwarzen Kirche im 20. Jahrhundert durch Albert Eichhorn und Era Nussbächer nachdrücklichen Restaurierungseingriffen unterzogen wurde, gab es keine vergleichbaren Maßnahmen an dem Bistritzer Bestand, so dass diese sich gegenüber den Kronstädter Teppichen gewissermaßen in einem Vorzustand befinden, der wiederum Rückschlüsse auf die Zustandsgeschichte der Kronstädter Exemplare erlaubt. Kaum ein Kapitel der siebenbürgisch-sächsischen Kulturgeschichte ist schillernder als die besondere Freude, mit der sich diese Gemeinschaft östliche Erzeugnisse und fremde Bilderwelten für den eigenen Gebrauch aneignete.
Verfasser: Frank-Thomas Ziegler
Bibliographischer Hinweis: Kregeloh, Anja (Hrsg.): Anatolische Teppiche aus Bistritz/Bistrița: Die Sammlung der Evangelischen Stadtkirche A. B. im Germanischen Nationalmuseum, Heidelberg: arthistoricum.net, 2023.
URL: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1194
Dieser Beitrag ist auch in der Karpatenrundschau Nr. 21 (3738)
vom 25. Mai 2023 erschienen.