Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
von Rainer Maria Rilke
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
AUSEINANDERSETZUNG MIT GOTT UND MIT DEM GLAUBEN
von Sabine Morres
Wenn von „wachsenden Ringen” die Rede ist, denken wir an die Bäume, die jedes Jahr, bis zu ihrem Tod, unter der Rinde einen Ring ansetzen. Das ist ihre Art zu leben.
In diesem Gedicht vergleicht das lyrische Ich sein Leben mit Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Das könnten wir so verstehen, dass das lyrische Ich sich mit den Dingen des Lebens, mit den Situationen, mit denen es konfrontiert wird, auseinander setzen muss. Es bemüht sich die Dinge zu verstehen und in dem Moment des völligen Verstehens werden sie symbolisch von einem Ring überzogen. Das ist ein Prozess, der ein Leben lang anhält und es ist ein Prozess, der eine Anstrengung voraussetzt. Das lyrische Ich ist sich dessen bewußt, dass ihm der Erfolg nicht unbedingt gesichert ist, aber wichtiger als der Erfolg ist die lebenslange Bestrebung, Dinge und Situationen zu verstehen. Heute spricht man gerne von „lebenslangem Lernen”, ein Begriff, der zu Rilkes Zeiten nicht so geläufig war, dessen Notwendigkeit in diesem Gedicht aber deutlich zum Ausdruck kommt.
In der zweiten Strophe wird das wichtigste „Ding” genannt, mit dem sich das lyrische Ich auseinandersetzen muss. Es ist Gott, der hier mit einem „uralten Turm” verglichen wird. Das Gottesverständnis verläuft hier aber nicht in der Art der wachsenden Ringe, dafür ist der Begriff „Gott” viel zu umfassend, sowohl räumlich als auch zeitlich. Die Auseinandersetzung mit Gott dauert „jahrtausendelang”. Die Annäherung an Gott verläuft in einer kreisenden Bewegung und das lyrische Ich stellt sich drei verschiedene Zustände vor, die diese Bewegung ausführen könnten. Es kann sich mit Gott als ein Falke auseinandersetzen, als ein kleiner Jagdvogel, der sein Ziel präzise verfolgt, zugleich aber einen sehr weiten Blickwinkel hat. Ein umfassenderes Bild von Gott erreicht das lyrische Ich, wenn es sich ihm als ein Sturm nähert. Dabei müssen wir aber auch an gewaltige, eben stürmische Prozesse denken. Die komplexeste Annäherung an den Gottesbegriff geschieht mit Hilfe des Gesanges, Rilke nennt ihn „großer Gesang”. Dabei denken wir an einen Lobgesang oder einen Dankesgesang, der allumfassend ist. Musik im Allgemeinen ermöglicht seelische Zustände, die einer Gotteserfahrung am nächsten kommen. Musik ist nicht gebunden an Zeit, Raum oder Sprache und dadurch kommt sie dem Gottesbegriff am nächsten.
Rilke gehört zu den großen Sprachkünstlern der deutschen Literatur. Dass ihm die Auseinandersetzung mit Gott und mit dem Glauben ein wichtiges Anliegen war, erkennen wir daran, dass das Wort „ich” in den acht Zeilen des Gedichtes sieben Mal vorkommt. Es ist eine Auseinandersetzung, mit der jeder Mensch im Laufe seines Lebens konfrontiert wird. Und es ist eine Auseinandersetzung, die ein Leben lang dauert.