von Eckart Schlandt
Senior-Organist der Schwarzen Kirche
In Kronstadt gab es immer schon eine vielseitig entwickelte Musikkultur, die von bedeutenden Musikern wie Johann Ludwig Hedwig, Rudolf Lassel, Paul Richter und anderen gepflegt wurde. Es gab den Schülerkirchenchor, den Kronstädter Männergesangsverein, den Kronstädter deutschen Liederkranz, die Stadtkapelle, die Philharmonische Gesellschaft, rumänische und ungarische Chöre. So konnte Victor Bickerich, Organist, Musikdirektor und Gymnasialmusiklehrer, im Jahre 1922 die Arbeit fortsetzen. Der Kronstädter Männergesangsverein hatte Oratorien, Opern, Operetten und Singspiele aufgeführt. Die Werke Johann Sebastian Bachs waren nur vereinzelt erklungen. So kam 1924 die Matthäuspassion und 1931 die Johannespassion von Bach unter Bickerichs Leitung zu Landeserstaufführungen.
Victor Bickerich mit dem Schülerkirchenchor, Schuljahr 1929/30
Im Kronstädter Männergesangsverein gab es aber auch Gegenstimmen, denen die intensive Bachpflege kein Herzensbedürfnis war. So bildete sich innerhalb des Männergesangsvereins ein Kreis der Bachverehrer, die auch weiterhin den Männergesangsverein besuchten und im Januar 1933 den Bachchor begründeten.
Der Bachchor wurde Bickerichs „liebstes Kind“. Es waren junge begabte Stimmen, die bereit waren, ihrem Meister in allem zu folgen. Die Erfolge stellten sich rasch ein. Erstes siebenbürgisches Bachfest, Auftritte im Bukarester Athenäum, Rundfunkübertragungen aus der Schwarzen Kirche, Deutschlandfahrt, viele Aufführungen in der bis 1938 unheizbaren Kirche.
Der Bachchor vor dem Schloss Sanssouci in Potsdam, September 1937
Es gibt eine genaue Evidenz über die Aufführungen und die gottesdienstlichen Einsätze des Bachchors in jener Zeit. Der Bachchor war gleichzeitig der Kirchenchor und teilte sich die Aufgaben im Gottesdienst mit dem Schülerkirchenchor.
Durch enge Verbindung mit Bukarest kamen Solisten, erste Kräfte des Landes, nach Kronstadt. George Enescu dirigierte 1943 den Bachchor in Bukarest.
Victor Bickerich mit dem „Jungen Bach-Chor“, um 1956
Der Krieg und die Nachkriegszeit schränkten die Tätigkeit im Bachchor ein. Sämtliche anfangs erwähnten Musikvereinigungen wurden im Herbst 1944 aufgelöst. Einzig und allein der Bachchor konnte als Kirchenchor weitermachen. Später gab es wieder Schülerchöre, die aber mit der Kirche nichts mehr zu tun hatten, die Schule trennte sich von der Kirche.
Victor Bickerich dirigiert die Johannespassion, 1957
In der 1949 gegründeten staatlichen Philharmonie waren zahlreiche ehemalige Mitglieder der Philharmonischen Gesellschaft. Den Musikern wurde verboten, in der Kirche zu spielen. So gab es Choraufführungen a cappella (ohne Orchester). Nach einem kurzen Wiederaufleben in den Jahren 1956 und 1957 kam der Schwarze-Kirche-Prozess. Die ständigen antikirchlichen Repressalien brachten die Singaktivitäten beinahe zum Erliegen. Das gottesdienstliche Singen besonders an den Hochfesten ging aber weiter. Victor Bickerich übergab den Bachchor 1962 an Walter Schlandt, der mit ehemaligen Schülern aus dem Schülerorchester die sonntägliche Kirchenmusik (Instrumentalsolisten) bereicherte und mit diesen und Amateurmusikern zusammen zwei große Werke (Bachs Johannespassion und Mozarts Requiem) aufführte.
Im Jahre 1965 übernahm Eckart Schlandt den Chor, der überwiegend aus älteren Sängern bestand.
Eckart Schlandt dirigiert die Johannespassion, 1969
Nun getrauten sich auch wieder jüngere Sänger zu kommen. Im Zusammenarbeit Vater und Sohn (durch getrennte Proben) erstand nach Jahren eine Vielzahl von alten und neuen Werken. Die kirchenfeindliche Haltung der staatlichen Autoritäten ging weiter. Dazu kamen, ab 1969, in verstärktem Maße die Auswanderungen. Neben gottesdienstlichem Singen wurden immerhin drei bis vier große Aufführungen jährlich veranstaltet. Es gab ganz wenige Kirchen im Land, an denen große geistliche Werke aufgeführt werden durften, und das über Jahrzehnte. So erklangen neben Bachs Passionen, dem Weihnachtsoratorium, Bachkantaten und Motetten, das Requiem von Mozart und Werke von Händel, Haydn, Lassel, Richter, u.a. Geselliges Leben gab es, die Chormitglieder hielten fest zusammen. In vielen Jahren wurde ein interner Fasching vorbereitet, der großen Anklang fand. Es fanden Ausfahrten, Chortreffen und viele andere Gemeinschaftsunternehmungen statt.
Eckart Schlandt dirigiert 1984 J. S. Bachs h-Moll-Messe
Durch die riesige Auswanderungswelle im Jahr 1990 blieb im bis dahin rein evangelischen Chor etwa ein Drittel der Mitglieder zurück. Die Chortätigkeit wurde mit Hilfe von Sympathisanten anderer Konfessionen oder in Zusammenarbeit mit anderen Chören fortgesetzt. Es musste Nachwuchs herangezogen werden. Das Jahr 1993 war die Geburtsstunde des Jugendbachchors. Dieser ist bis auf den heutigen Tag das Rückgrat des Bachchors, selbst wenn inzwischen neue Mitglieder im Jugendbachchor singen. Zwei Auslandsfahrten in die Bundesrepublik Deutschland fanden statt.
Im Jahr 2004 übernahm Steffen Schlandt die beiden Chöre und erweiterte das Repertoire wesentlich. Es erklangen nun neben Werken von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy und Antonín Dvořák vermehrt auch solche von Reinhard Keiser, César Franck, Gabriel Fauré, Anton Bruckner und gelegentlich auch weltliche Werke (z. B. die „Carmina Burana“).
Der Bachchor beging 2008 sein 75jähriges Jubiläum mit einem Festkonzert, dirigiert von Steffen Schlandt
Den Gipfelpunkt der bisherigen Chortätigkeit unter Steffen Schlandt sehe ich in den drei Aufführungen der Matthäuspassion in Bukarest, Miercurea Ciuc und der Schwarzen Kirche im Sommer dieses Jahres. Über diese Aufführungen müsste ein eigener Bericht geschrieben werden, ebenso über den Jugendbachchor mit seinen zahlreichen Einsätzen im In- und Ausland.
Als jahrzehntelanger „aktiver“ Beobachter der Tätigkeit des Bachchors würde ich mir wünschen, dass ungeachtet der Konfession möglichst viele in den Bann dieser Gemeinschaft gezogen werden, die eingeschlagene Richtung, die zu kirchlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Höhepunkten führt, nachvollzogen wird und von Kindesbeinen an die positiven Seiten der musikalischen Aktivität in die Zukunft weitergeleitet und gepflegt werden.
Zahlen aus dem Bachchor
In den Jahren 1933-2004 (bis zum Amtsantritt Steffen M. Schlandts) bot der Bachchor 188 große Aufführungen.
1933 – 1962 Victor Bickerich – 74 Aufführungen
1962 – 1965 Walter Schlandt – 5 Aufführungen
1965 – 2004 Eckart Schlandt – 109 Aufführungen
Im Durchschnitt sind dies 2,6 Aufführungen pro Jahr
Der Bachchor auf der Honterusfeier 1998