
Predigt von Pfarrerin Christiane Schöll
gehalten am 9. Februar 2025, dem vierten Sonntag vor der Passionszeit, in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt
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Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus! AMEN.
Wir hören den heutigen Predigttext aus dem Markusevangelium im 4. Kapitel:
Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es ward eine große Stille. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben? Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Meer gehorsam sind!
Mk 4,35-41
Der Herr segne sein Wort an uns allen. AMEN.
Liebe Schwestern und Brüder!
[Pfrin. Christiane Schöll hebt ein Schild mit dem Schrift zu „Still!“ hoch.]
Ich habe diese Geschichte von der Sturmstillung schon sehr oft in der Kinderkirche und auch in Schulklassen erzählt. Es wird wohl eine der Geschichten sein, die ich mit am häufigsten erzählt habe und dabei hat immer solch ein Schild eine Rolle gespielt. Denn die Kinder und ich haben die Geschichte dann gemeinsam nachgespielt, ein paar waren die Jünger, aber wir hatten auch Kinder, die Wellen und Sturm gespielt habe – oft auch mit Rasseln und Trommeln und Ähnlichem. Sie haben an den Jüngern gerüttelt und wurden immer lauter. Bis das Kind, das Jesus gespielt hat, aufgestanden ist und dieses Schild hochgehalten hat – und mit einem Schlag war der Spuk vorbei. Es war wunderbar still. Das hat selbst in den chaotischsten Klassen immer funktioniert. Jesus schenkt Ruhe im Chaos. Das ist den Kindern dann auch immer eindrücklich in Erinnerung geblieben. Sie haben es beim Theaterspielen am eigenen Leib erfahren.
Ruhe im Sturm, das wünschen auch wir Erwachsenen uns. Aber mit so einem Schild ist es da leider nicht getan. Die Stürme, die uns bedrängen sind ja oft innerlich. Wir fühlen uns unruhig, weil es bei der Arbeit schwierig ist oder weil die Eltern nicht mehr gut allein zu recht kommen oder wir Angst haben, dass unsere Kinder falsche Entscheidungen treffen. Eine schlimme Diagnose kann uns beschäftigen oder Geldsorgen. Und manchmal wird es dann zu viel. Wir haben das Gefühl, dass die Wogen über uns zusammenbrechen. Was hilft Ihnen in so einem Sturm?
Ein Freundin meinte letzte Woche zu mir: Oft sei es ja so mit den Stürmen, man funktioniert dann weiter, aber nur in so einer Art Überlebensmodus. Und erst später merkt man dann, dass es eigentlich zu viel war. Funktionieren geht wahrscheinlich eine Weile, aber irgendwann sind dann alle Kräfte aufgebraucht. Was machen wir mit den Stürmen, bei denen wir das Gefühl haben, dass kein anderer Mensch uns helfen kann? Was passiert, wenn wir Jesus um Hilfe im Sturm bitten? Der Evangelist Markus setzt sich mit dieser Frage in unserem heutigen Predigttext auseinander. Sie ist nicht leicht für ihn zu beantworten, genauso wenig wie für uns.
Der Evangelist Markus hat in einer Zeit sein Evangelium geschrieben, die für die Bewohner der Gegenden um Jerusalem und die ersten christlichen Gemeinden sehr schwierig war. Markus hat den sogenannten „Jüdischen Krieg“ erlebt. Damals, etwa 70 nach Christus, haben Aufständische gegen die Römischen Besatzer gekämpft und es kam letztlich zu einer sehr schlimmen Niederlage der Aufständischen. Der Tempel wurde komplett zerstört und bis zum heutigen Tag nicht mehr aufgebaut. Die heutige Forschung geht davon aus, dass bei diesem Aufstand bis zu einem Drittel der Bevölkerung von Judäa, also von Jerusalem und Umgebung, gestorben ist. Viele wurden als Sklaven verkauft und viele sind ausgewandert. Auch die erste christliche Gemeinde, die sich in Jerusalem aufgehalten hat, zerstreut sich nach dem Sieg der Römer in verschiedene Richtungen. Eine riesige Katastrophe – vergleichbar mit einem Sturm, der über die Bevölkerung hinweg gefegt ist. Während dieses Aufstandes gab es auch Gefechte am See Genezareth. Dazu möchte ich Ihnen einen kurzen Abschnitt aus Wikipedia vorlesen:
„Tarichaea am See Genezareth wurde erobert, woraufhin die Zeloten und ihre Familien mit allen verfügbaren Booten auf den See flohen. Vespasian ließ daraufhin zahlreiche Flöße bauen, auf denen sich seine Soldaten an die Verfolgung machten. Die jüdischen Boote konnten nirgendwo landen, da die Römer das ganze Ufer besetzt hielten. Den Legionären auf ihren Flößen waren sie auch nicht gewachsen: „die kleinen, nach Piratenart leicht gebauten Kähne erwiesen sich als viel zu schwach.“ Niemand [laut der damaligen Berichte] sei dem folgenden Gemetzel schwimmend entkommen, am Seeufer hätten danach viele verwesende Leichen und Schiffstrümmer gelegen.“
Hat der Evangelist Markus diese Katastrophe im Kopf, wenn er von der Sturmstillung berichtet? Wir wissen es zwar nicht sicher. Aber man kann es sich vorstellen. Auch die junge christliche Gemeinde in Rom wird zu dieser Zeit das erste Mal schlimm verfolgt durch Kaiser Nero. Auch dieses Ereignis könnte für Markus eine große Rolle gespielt haben, wenn er über Stürme im Leben nachdenkt.
In der Erzählung der Sturmstillung finde ich sehr interessant, wie Markus sich mit der Anwesenheit von Jesus im Sturm auseinandersetzt. Jesus ist da, aber er schläft. Er lässt sich vom Sturm nicht stören. Die Jünger rütteln ihn wach und rufen: „Ist es dir egal, wenn wir hier umkommen?“ Kennen wir das nicht auch? Wir haben das Gefühl, dass der Sturm über uns zusammenbricht und wir fühlen uns dabei von Gott allein gelassen. Was haben wohl die Menschen damals in Judäa gedacht, als sie durch die Römer so viel Leid erfahren haben? Oder die christliche Gemeinde in Rom, die verfolgt wurde? Haben auch sie gebetet: „Ist es dir egal, was mit uns geschieht, Gott? Schläfst du?“
Jesus rettet dann die Jünger und rügt sie gleich darauf: „Warum hattet ihr solche Angst, habt ihr so wenig Vertrauen?“ Heißt das, Jesus hätte auch eingegriffen, wenn die Jünger ihn nicht wach gerüttelt hätten? Diese Frage beantwortet uns die Erzählung nicht. Aber mich würde sie sehr interessieren. Macht es einen Unterschied, wenn wir Jesus bedrängen? Rettet er uns eher, wenn wir ihn dazu auffordern? Oder ist er sowieso da und wird uns retten? Und auf der anderen Seite: Zeigen die Jünger nicht gerade darin ihren Glauben, dass sie Jesus wachrütteln? Sie rechnen damit, dass Jesus ihnen helfen kann. Aber sie glauben nicht, dass er dies tut, so lange er schläft.
Mit der Beschreibung, wie Jesus schläft und dann aufsteht weist Markus über dieses Erlebnis der Jünger mit dem Menschen Jesus von Nazareth hinaus. Die Worte, die der Evangelist für „schlafen“ und „aufstehen“ verwendet, weisen auf den Tod und die Auferstehung Jesu hin. Es geht in diesem Sturm und in diesem Boot nicht so sehr um die damaligen Jünger und Jesus von Nazareth, sondern Markus spannt den Bogen zu den Christen seiner Zeit und auch zu uns Christen heute und zu unserem Verhältnis zum auferstandenen Christus. So sind alle Evangelien geschrieben: sie erzählen vom Leben Jesu, aber immer mit der Deutung im Blick, dass Jesus für uns alle gestorben und auferstanden ist. Von Ostern her blickt Markus auf das Leben Jesu zurück und überlegt, was von diesem Leben für uns Christen nach Ostern wichtig ist.
Wie begegnet der auferstandene Christus seiner Gemeinde in den Stürmen des Lebens? Markus könnte konkreter fragen: Wie begegnet der Auferstandene den Menschen in einer Katastrophe wie dem jüdischen Krieg oder der Christenverfolgung? Markus macht es sich nicht leicht mit dieser Frage. Er weiß, dass man die Kraft Jesu nicht immer spürt. Immer wieder haben wir den Eindruck, dass Jesus eben nicht wahrnimmt, wie es uns geht, dass er nicht eingreift, wenn wir in Schwierigkeiten stecken.
Immer wieder fühlen wir uns von Gott allein gelassen und erleben Unsicherheit und Zweifel in den Stürmen unseres Lebens. Und auch Markus selbst geht es wohl so. Aber ein paar Dinge sind für Markus ganz sicher und die betont er in seinem Bericht von der Sturmstillung:
Erstens, Jesus ist im Sturm die ganze Zeit dabei. Er ist auch betroffen, auch wenn er schläft. Auch in der Leidensgeschichte Jesu ist das für Markus ein ganz wichtiges Thema. Jesus ist ganz Mensch. Er erfährt Leid am eigenen Leib. Er erleidet einen schlimmen Tod und er fühlt sich am Kreuz sogar von Gott verlassen. Markus zeigt damit den Menschen seiner Zeit und auch uns: Jesus leidet mit uns. Er fühlt mit uns.
Als Zweites ist Markus wichtig: Jesus hat die Macht, den Sturm zu beenden. Er ist Gottes Sohn. Wind und Wellen gehorchen ihm. Er kann auch andere Stürme beenden, im Leben der ersten Christen und auch in unserem Leben. Allerdings bleibt dabei offen, warum er manchmal nicht eingreift oder erst sehr spät. Diese Frage, warum Jesus so lange schläft, während seine Jünger Angst haben, erklärt Markus nicht. Er ist ehrlich. Auch wir machen diese Erfahrung, dass Jesus nicht eingreift und die Spannung kann nicht einfach aufgehoben werden. Aber im Hintergrund steht der Glaube, dass Jesus auferstanden ist. Am Ende siegt das Leben über den Tod.
Und dann bleibt für Markus und für uns noch die Frage: Wie geht es nach einem schlimmen Ereignis weiter? Wie geht es für die ersten Christen weiter nach den katastrophalen Erlebnissen des jüdischen Krieges oder der Verfolgung durch Kaiser Nero? Wie geht es für uns weiter, wenn die Wogen eines Lebenssturmes sich geglättet haben? Die Jünger reagieren überraschend nach der Stillung des Sturmes. Sie sind davon beeindruckt, was Jesus getan hat, aber gleichzeitig heißt es: „und sie fürchteten sich sehr“. Am Ende der Erzählung steht nicht Dankbarkeit, sondern Furcht. Das ganze Markusevangelium endet in dieser Furcht. Die Frauen am Grab hören die gute Botschaft des Engels, dass Jesus auferstanden ist, aber sie laufen nicht fröhlich nach Hause, sondern es heißt dort: „Und sie gingen hinaus und flohen von dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas; denn sie fürchteten sich.“
Dieses Ende, das Markus für sein Evangelium wählt, ist mutig. Denn er ist ehrlich. Er glaubt daran, dass Jesus auferstanden ist, dass er bei uns ist, wenn wir schlimme Dinge erleben und er glaubt auch, dass Jesus die Macht hat, uns zu helfen. Aber er ist auch ehrlich gegenüber seinen eigenen Gefühlen. Er hat trotzdem Angst – auch wenn er an Jesus glaubt und auch wenn er schon Katastrophen in seinem Leben überstanden hat. Er – Markus – hat vielleicht ganz konkret Angst davor, vom auferstandenen Christus zu erzählen, weil er Verfolgung fürchtet. Markus lässt die Spannung in seinem ganzen Evangelium stehen, die auch wir kennen. Auf der einen Seite glauben wir an Jesus und auf der anderen Seite haben wir trotzdem weiterhin Angst.
[„Still“ – Pfrin. Christiane Schöll hält das Schild noch einmal hoch]
Was bedeutet das nun für die Stürme in unserem Leben?
Die Spannung zwischen Glaube und Angst, der wir ausgesetzt sind, wenn wir Schlimmes erleben, wird bleiben. Es wird wohl nicht passieren, dass wir beten und die Katastrophe hat ein Ende und es wird ein für alle Mal still bleiben und all unsere Zweifel sind überwunden. Aber vielleicht ist es das, was Markus uns zusagen will, wenn Jesus erst den Sturm stillt und dann seine Jünger rügt, ob sie denn keinen Glauben hätten. Wir müssen nicht standhaft und felsenfest überzeugt sein. Jesus bleibt bei uns in all unseren Zweifeln. Und ganz am Ende siegt immer das Leben über den Tod, auch wenn wir das in unserer Situation nicht glauben können.
AMEN.
Predigt von Stadtpfarrer Christian Plajer
gehalten am 2. Februar 2025, dem letzten Sonntag nach Epiphanias, in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt
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Lesung: Matthäus 17,1-9.
Predigt: 2.Mose 3,1-8a(8b.9)10(11-12)13-14(15).
Thema: Der Gott Israels zeigt sich unnahbar und geht mit, Neues schaffend.
Lieder (nach dem Gesangbuch der EKD): 450,1-3; 404,1-4+8; 395,1-3; 73,1-6.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde,
neulich gab es in einer renommierten deutschsprachigen Zeitschrift einen Artikel, in welchem ein herausragender Physiker und Philosoph, Alexander Blum, über die Welt und damit unweigerlich auch über Gott ausgefragt worden ist. Als Schlagzeile galt die Aussage dieses Wissenschaftlers, der behauptet: „Es wäre vermessen, Gott mit absoluter Sicherheit auszuschließen“ . Damit meinte er Grenzen im Bereich der Physik, von denen man sich heute nicht vorstellen kann, dass sie einmal überschritten werden könnten. Z. B. bei der Forschung über den Urspung des Kosmos: Irgendwann stößt man mit physikalischen und denkerischen Methoden an Grenzen, die – heute – unüberwindbar scheinen.
Und so stellt sich die Frage: Was ist dahinter? Vielleicht Gott? Oder wird das Denken und Erforschen doch immer wieder weiter gehen, auch wenn sich die Wissenschaftler heute nicht vorstellen können, wie (z. B. mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, die bis vor kurzem Undenkbares möglich macht)?
Wenn man aus solchen Überlegungen Hinweise auf die Existenz Gottes herauslesen will, muss man dazu gleich sagen: Ja, mag sein, dass man diese Grenzen der Erkenntnis mit der Existenz eines Schöpfergottes zusammendenken kann. Und die Bibel spricht selbst ja auch von Gott als dem Schöpfer der Welt.
Gott als Schöpfer der Welt ist allerdings nur ein Aspekt der Zeugnisse über ihn. Die Bibel bezeugt uns darüber hinaus – und das ist viel wichtiger – einen Gott, der sich zu uns in Beziehung setzt, der relevant wird für die Entfaltung unseres Lebens hier und heute in der Welt, in der wir leben, unter den Umständen, die unser Leben bestimmen und uns nicht selten Schmerz und Leiden verursachen; ein Gott, der relevant wird für uns persönlich als einer, der mit uns geht, weil er schon vor uns da war und auch in Zukunft da sein wird. Denn er hat uns zugesagt: Ich will für euch da sein!
Dies, liebe Gemeinde, ist die zentrale Aussage des heutigen Predigtwortes. Gott sagt: Ich will für euch da sein (und das gilt jenseits aller physikalischen, philosophischen u. a. Erkenntnismöglichkeiten).
Diese Zusage Gottes, „Ich werde für euch da sein“, gilt in erster Reihe für das Volk Israel und sie gilt uns heute nur insofern, als sie im Zusammenhang der Geschichte des Volkes Israel belassen wird. Also: Wir sollten die Zeugnisse Gottes in der Bibel nicht als unabhängige Gottesoffenbarungen verstehen, so als ob es einen „direkten Draht“ zwischen Gott und Mensch gäbe. Sondern: Es gilt jeweils nachzuvollziehen, dass und wie sich Gott in der Geschichte offenbart hat, und zwar konkret in der Geschichte des Volkes Israel. Und es gilt zu vernehmen, dass er das auch in Zukunft fortführen wird (nun nicht mehr allein auf die Geschichte dieses einen Volkes bezogen, sondern in universaler Perspektive).
Die Vergangenheit dieses bezeugten und geglaubten Wirkens Gottes ist unlösbar verbunden mit der Geschichte von Verheißung und Erfüllung für das Volk Israel – wobei die Kontinuität von Verheißung und Erfüllung nie abbricht. (Jede Erfüllung von Verheißung erschließt eine neue Perspektive von Verheißung). Aber es gilt dann natürlich auch die 2.000 Jahre alte die Erkenntnis, dass Gottes Verheißung und Wirken sich nicht nur auf ein Volk (Israel) beschränkt, sondern alle Menschen mit einbezogen sind. Vereinfacht könnte man sagen: Gott hat in die Verheißungen, die ursprünglich für das Volk Israel ‚gedacht‘ waren, alle Menschen mit eingeschlossen.
Unser heutiges Predigtwort ist eines der wichtigsten Zeugnisse über diesen Gott. Es geht darin in entscheidender Weise darum, wie Gott zu verstehen ist: Gott, der sich aktiv in die Geschichte impliziert, der (in der Geschichte und mit der Geschichte) mitgeht, der – als jener, der sich unrspünglich Israel offenbart hat – im Laufe der Zeit auch neue, unbekannte Seiten seiner selbst offenbart, der sich selbst mit dem Lauf der Geschichte mit entwickelt – bzw. der sich mit dem Fortlauf der Geschichte neu und auf neue Weise zeigt und Neues wirkt. Ein Gott der Geschichte, der auf Zukunft hin „arbeitet“.
Hören wir nun den Predigttext und versuchen danach, einzelne Aussagen zu ergründen – das Zeugnis ist jedenfalls sehr komplex und sehr tiefgründig.
Lesung des Predigttextes in der Übersetzung der BasisBibel:
Mose hütete die Herde seines Schwiegervaters Jitro.
Jitro war der Priester von Midian.
Einmal trieb Mose die Herde über die Steppe hinaus.
So kam er an den Berg Gottes, den Horeb.
Da erschien ihm ein Engel des Herrn:
Eine Flamme schlug aus einem Dornbusch.
Mose bemerkte,
dass der Dornbusch in Flammen stand
und trotzdem nicht verbrannte.
Mose sagte sich: »Ich will hingehen
und mir diese auffallende Erscheinung ansehen.
Warum verbrennt der Dornbusch nicht?«
Der Herr sah, dass Mose vom Weg abbog
und sich die Erscheinung ansehen wollte.
Da rief ihn Gott mitten aus dem Dornbusch:
»Mose, Mose!«
Er antwortete: »Hier bin ich!«
Gott sprach:
»Komm nicht näher! Zieh deine Schuhe aus!
Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land.«
Weiter sprach er: »Ich bin der Gott deiner Väter,
der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.«
Da verhüllte Mose sein Gesicht.
Er hatte Angst davor, Gott zu sehen.
Der Herr sprach:
»Ich habe die Not meines Volks in Ägypten gesehen.
Die Klage über ihre Unterdrücker habe ich gehört.
Ich weiß, was sie erdulden müssen.
Deshalb bin ich herabgekommen,
um sie aus der Gewalt der Ägypter zu befreien.
Ich will mein Volk aus diesem Land führen.
Es soll in ein gutes und weites Land kommen,
in dem Milch und Honig fließen.
[Es ist das Land der Kanaaniter und Hetiter,
der Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter.
Darum sei gewiss:
Die Klage der Israeliten ist zu mir gedrungen.
Ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie quälen.]
Nun geh! Ich sende dich zum Pharao.
Du sollst mein Volk, die Israeliten,
aus Ägypten führen.«
[Mose sagte zu Gott:
»Wer bin ich denn, dass ich einfach zum Pharao gehe?
Und wie soll ich die Israeliten aus Ägypten führen?«
Gott antwortete: »Ich werde bei dir sein!
Daran wirst du sehen, dass ich dich gesandt habe:
Wenn du das Volk aus Ägypten geführt hast,
sollt ihr mir an diesem Berg dienen.«]
Mose antwortete Gott:
»Ich werde zu den Israeliten gehen und ihnen sagen:
›Der Gott eurer Väter schickt mich zu euch.‹
Was ist, wenn sie mich fragen: ›Wie heißt er?‹
Was soll ich ihnen dann sagen?«
Da sprach Gott zu Mose:
»›Ich werde sein, der ich sein werde.‹
Das sollst du den Israeliten sagen:
Der ›Ich-werde-sein‹ hat mich zu euch geschickt.«
[Weiter sprach Gott zu Mose:
»Das sollst du den Israeliten sagen:
›Der Herr hat mich zu euch geschickt,
der Gott eurer Väter Abraham, Isaak und Jakob.‹
So heiße ich schon immer, und so will ich
bei all ihren Nachkommen genannt werden.]
Interessanterweise beginnt der Text nicht mit Ägypten, wo das Volk Israel gerade unerträglich geschunden wird, er beginnt auch nicht mit dem in der Zukunft liegenden ‚gelobten Land‘, in dem ‚Milch und Honig fließen‘. Nein, es beginnt mit Midian. Dies ist ein fremdes Land, in dem Mose eine neue Heimat gefunden hat, nachdem er gewissermaßen als Prinz des Pharao in Ägypten aufgewachsen war. Mose scheint da auch recht gut integriert gewesen zu sein in seiner neuen Heimat Midian: Hatte er sich doch in die Familie des Priesters Jitro eingeheiratet – und man kann annehmen, dass er da ein gutes Leben nur führen konnte, wenn er den fremden Götterkult Midians zumindest toleriert, wenn nicht mitgetragen hat. Oder, wenn nicht, mag er sich in religiöser Beziehung zumindest eher still verhalten haben.
Womit beschäftigt sich Mose? Er hütet die Schafe seines Schwiegervaters. Das fällt auf, weil es ursprünglich die Aufgabe der Töchter des Jitro war. Nun ist Mose dran. Warum? Erinnern wir uns: Abraham zog als Kleinviehhirte aus seiner Urheimat aus. Joseph, nachdem er der – unter dem Pharao – der zweitmächtigste Mann in Ägypten geworden war, rief seine Brüder, seine Familie, nach Ägypten und richtete es für sie so ein, dass sie dort… ihre Tiere weiden konnten – eine in Ägypten nicht übliche Erwerbstätigkeit. Wenn nun Mose die Schafe seines Schwiegervaters hütet, dann wird damit darauf hingewiesen, dass er der ureigensten Beschäftigung des Volkes Israel nachgeht, obwohl er nun in Midian und in ‚neuen‘ Kontexten beheimatet ist. Dieses Schafe-Hüten verbindet ihn mit den Erzvätern Israels und ist wie ein Hinweis darauf, dass Mose eigentlich dort hin gehört, dass Gott – wie auch mit Abraham & Co. – durch Mose weiter ‚arbeitet‘ an der Geschichte dieses Volkes auf eine Zukunft hin, für die ‚Milch und Honig‘ in Aussicht gestellt werden.
In dieser Spannung, in der Mose zwischen Midian und Israel steht, geschieht etwas sehr Ungewöhnliches. Mose schert aus seinem Alltag aus, er tut etwas Unübliches. Mit den Schafen in der Wüste unterwegs, biegt er von dem bekannten Weg ab. „Einmal trieb Mose die Herde über die Steppe hinaus“ (3,1). Im Hebräischen wird dafür eine ungewöhnliche, einmalige grammatikalische Formulierung verwendet. Man kann auch sagen: Mose durchschreitet die Steppe (Luther: Wüste), er geht über sie hinaus. Und, siehe da, er entdeckt dabei den Gottesberg Horeb (der auch Sinai genannt wird).
Was fällt auf? Mose also durchquert die „Wüste“ und kommt an den Berg Gottes, wo sich ihm Gott – im brennenden Dornbusch – offenbart. Was geschah mit dem Volk Israel, nachdem Mose es aus Ägypten herausgeführt hatte? Es durchwandert die Wüste und kommt an den Berg Sinai, wo sich Gott – nicht dem Volk direkt, aber Mose (erneut) offenbart.
Damit haben wir ein entscheidendes Motiv: Man befindet sich in der Steppe, wo kein Ackerbau möglich ist, wo man mit karger Vegetation und lauter Entbehrungen umgehen muß, wo man bisweilen um sein Überleben bangt, wo es immer wieder Krisen gibt, man sich bisweilen am Abgrund seiner Existenz wähnt. Das Land in dem „Milch und Honig fließen“, wo man Ackerbau betreiben und ein gutes Leben führen kann, ist weit entfernt, ist als Verheißung in die Zukunft projiziert. Diese karge Gegend aber, voller Schwierigkeiten und Etbehrungen, wird zum Ort, an dem Gott sich offenbart, wird zum Ort der Gottesbegegnung.
Mose also biegt ab vom Weg. In seinem grauen Alltag hält er Ausschau nach etwas, das mehr bedeutet als einfach Schafe hüten. Da sieht er einen Dornbusch brennen. Nichts Ungewöhnliches. Trockenheit, große Hitze – es kam schon vor, dass sich ein Busch von selbst entzündete. Mose aber merkt, dass es sich da nicht um ein kurzes Aufflackern handelt, das den Busch im Nu in Asche verwandelt. Nein, das ist ein sehr ungewöhnliches Feuer: Der Dornbusch ist nicht Nahrung, sondern Träger des Feuers (und wir erinnern uns dabei an das Feuer auf dem Berg Sinai, in dem Gott später Mose als Führer des Volkes erscheint). Gewissermaßen Zeichen für die Gottesgegenwart. Mose biegt vom Weg ab (schon wieder?, V.4), er kommt aber nicht weit, denn Gott spricht ihn aus dem Dornbusch heraus an: „Mose! Mose!“. Mose wird persönlich angesprochen, er wird beim Namen genannt.
Warum aus dem Dornbusch? Hätte so etwas nicht z. B. wie eine Feuerzunge vom Himmel sein können, wie es vom Pfingstereignis, von der Ausgießung des Heiligen Geistes erwähnt wird? Natürlich ist der Dornbusch hier kein Zufall. Jedes Lebewesen, das da in einen solchen Dornbusch hineingeht, bei Verfolgung dort vielleicht Schutz suchen möchte, wird verletzt. Das Volk Israel, um das es Gott in dieser Geschichte geht, wird in Ägypten gerade geschunden, verletzt – so als ob tausend Stacheln täglich die Israeliten in der Sklaverei stechen würden. Da hinein, in diese verletztliche Situation, begibt sich Gott, in den Dornbusch. Und aus dieser verletzlichen Situation heraus spricht er Mose an, und indem er Mose anspricht, wird Gott aktiv.
Damit sind Dornbusch und Feuer weg vom Fenster, von da an kein Wörtlein mehr dazu, sie sind nicht mehr von Interesse. Denn es geht hier ja nicht um ein ‚irdisches‘ Wunder, das Gott tut, sondern es geht um die Beziehung, die Gott mit Mose eingeht, indem er ihn anspricht.
Das, liebe Gemeinde, ist entscheidend für uns unser Verständnis von Glauben, wie ihn die Bibel bezeugt: Glaube hat damit zu tun, dass ich mich von Gott angesprochen erfahre und dass ich mich in eine Beziehung zu ihm hineingeholt sehe. Auf diese Anrede durch Gott antwortet Mose: „Hier bin ich!“ – die Anrede wirkt, Mose ist bereit für Gott, er ist offen für etwas, das jenseits seiner alltäglichen Erfahrungen liegt. Ja, was da geschieht, bleibt unfassbar und wird dadurch ausgedrückt, dass die Stimme Gottes unmittelbar auf dieses „Hier bin ich!“ sagt: „Komm nicht näher!“ Gott bleibt dem Mose entzogen, er bleibt unfassbar. Und nur aus dieser Unfassbarkeit heraus spricht Gott Menschen an, sie gehört wesentlich dazu zu diesem Angesprochen-Werden durch Gott.
Ist das nicht sonderbar? Ein Gott, der sich zugleich zeigt und entzieht? Warum sprechen wir als Gläubige dann immer davon, dass Gott bei uns ist, dass er uns nicht verlässt, dass er uns führt und leitet und so weiter? Nein, wir können Gott nach wie vor nicht fassen, in keiner Weise. Was gibt es dann für Anhaltspunkte?
Gott sagt zu Mose: „Ich bin der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“. Das bedeutet: Gott ist derjenige, der sich bereits in der Vergangenheit als wirksam erwiesen hat, und er verweist auf die Erinnerung dieses Wirkens in der Vergangenheit: Das Entscheidende dabei ist die Befreiung Israels aus Ägypten, um die es ja auch in der Erzählung vom brennenden Dornbusch geht. Befreit wurde das Volk nur, weil Gott Menschen wie Mose angesprochen, in ihnen Vertrauen erweckt hat gegenüber diesem unsichtbaren Gott. So kamen sie in Bewegung, wurden aktiv – wie Mose, der schließlich doch zum Pharao ging…
Ein letzter Gedanke an dieser Stelle: Weil Gott immer neu Menschen anspricht, obwohl man ihn nicht fassen kann, und weil das über Jahrtausende hinweg bezeugt wird, dürfen wir heute hoffen und vertrauen darauf, dass er das auch in Zukunft tun wird. In jeder neuen Situation, gerade auch in jeder neuen Wüsten-Situation, in der wir unser Dasein hinterfragt sehen, in jeder existenziell schwierigen Situation dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott mit uns geht, auch wenn wir ihn nicht sehen, nicht fassen können. Seien wir offen, seien wir Hörende wie Mose, aufhorchend bei einem Angesprochen-Werden, das uns in Bewegung bringt, uns vielleicht Wege führt, an die wir nie gedacht haben.
Wüstenwanderung und Gotteserfahrung liegen beieinander, wir bleiben immer unterwegs zwischen Verheißung und Erfüllung, und wir dürfen um der Erfahrung mit Gott willen, die von alters her bezeugt wird, zuversichtlich unsre Wege gehen. Gott wird auch weiterhin Menschen ansprechen und wirksam sein, auch wenn wir nicht wissen können, wie und wann das geschieht und was das konkret bewirken wird. Bei allem gilt die Botschaft Gottes, der sagt: Ich will für euch da sein. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Predigt von Pfarrer Joachim Lorenz
gehalten am 26. Januar 2025, dem 3. Sonntag nach Epiphanias in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt
Download: 26. Januar 2025 – 3 So. n. Epiphanias, Pfr. Joachim Lorenz .pdf
Lesung: Johannes 4, 5-14
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus.
Wir hören Gottes Wort für die Predigt aus dem Johannesevangelium Kapitel 4 (Basis-Bibel):
Jesus kam nach Sychar, einem Ort in Samarien. In seiner Nähe liegt das Grundstück,
das Jakob einst seinem Sohn Josef vererbt hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen.
Jesus war müde von dem langen Weg und setzte sich an den Brunnen. Es war um die sechste Stunde. Da kam eine Samariterin, um Wasser zu schöpfen. Jesus bat sie: »Gib mir etwas zu trinken.« Seine Jünger waren nämlich in den Ort gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. Da sagte die Samariterin zu ihm: »Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?« Denn die Juden vermeiden jeden Umgang mit Samaritern. Jesus antwortete: »Wenn du wüsstest, was für ein Geschenk Gott den Menschen macht und wer dich hier bittet: ›Gib mir etwas zu trinken‹! – dann würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben!« Die Frau erwiderte: »Herr, du hast nichts, um Wasser zu schöpfen, und der Brunnen ist tief. Woher hast du denn dieses lebendige Wasser? Bist du etwa mehr als unser Stammvater Jakob? Er hat uns diesen Brunnen hinterlassen. Er selbst hat daraus getrunken, ebenso seine Söhne und sein Vieh.« Darauf antwortete Jesus: »Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen. Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.
Herr, wir danken dir für dein Wort.
Es gibt ja bekanntlich verschiedene Arten von Wasser: Borsec, Dorna usw. Alle Sorten gibt es als Apă plată und Apă minerală. Als Kind kannte ich allerdings im Grunde nur eine Sorte Wasser, nämlich schlechtes. Bei uns gab es Wasser nur abgekocht, weil das, was aus der Leitung kam, nicht gut zu trinken war. Einen Brunnen gab es nicht. So gab es Wasser nur abgekocht als Tee oder Malzkaffee für uns Kinder.
Im Predigttext geht es um Wasser aus der Zisterne, also aus diesem Jakobs-Brunnen, im Gegensatz zu Quellwasser, das auch lebendiges Wasser genannt wird. Jesus nutzt da ein Wortspiel, um etwas Wesentliches anzusprechen. Er spricht den Lebensdurst nach etwas in unserem Leben, was bleibt, an. Da hat diese Frau, mit der Jesus spricht, allerhand Erfahrungen und Defizite. Ich möchte ein wenig deutlich machen, was Lebenslust bedeuten kann mit einem Liedtext, den ich gefunden habe. Er stammt von Gerhard Schöne, einem Liedermacher unserer Tage. Er hat ein Kirchenlied umgedichtet, das auch in unserem Gesangbuch steht: „Wo soll ich fliehen hin“.
Wo soll ich fliehen hin
Wenn ich mir selbst nichts bin?
Fühl ich mich überflüssig
Des Lebens überdrüssig
Dann möcht ich mich verkriechen
Nichts sehen, hören, riechen
Meist geht mein Tageslauf
In Arbeit völlig auf
Ich lass mich schieben, lenken
Nur um nicht nachzudenken
Mein ganzes Interesse
Ist, dass ich mich vergesse
Ich hab Paris geseh’n
Venedig und Athen
Ich jage über Pisten
Mit anderen Touristen
Und wenn ich wiederkehre
Bleibt dennoch eine Leere
Wer weiß noch einen Trip?
Wer hat noch einen Tip?
Womit ich mich aufs Neue
Betäube und zerstreue
Bin nicht in mir zu Hause
Funkstille. Sendepause
Leer sind die Batterien
Ich hab es satt zu fliehn
Komm zu mir, Herr des Lebens
Dass ich nicht leb vergebens
Mach mich und andre Leichen
Zu Deinem Lebenszeichen
Dieser Text hat mich sehr angerührt. Nun ist aber vom Thema der Woche her nicht dieser Aspekt der Entscheidende. Es soll mehr um das Thema gehen, das uns auch im Wochenspruch begegnet. Da geht es ja darum, dass von überall Menschen kommen werden, um in Gottes ewigem Reich zu sein. Man kann es fromm ausdrücken: um Nachfolger Jesu zu sein oder um als Christ zu leben.
Von überall – das war damals nicht nur Jerusalem oder Bethlehem oder Kapernaum oder Nazareth. Das ist für unseren Horizont nicht nur von Draas bis nach Broos oder von Kronstadt über Bistritz nach Mühlbach. Was dieser Vers anspricht, heißt: von da, wo weiße und wo schwarze Menschen leben. Von da, wo unsere Sprache gesprochen wird und von da, wo die Sprache klingt, als würde man einen Emaille-Topf die Treppen herunter werfen. Von da, wo uns die Kultur vertraut ist und von da, wo uns die Kultur – um es vorsichtig zu sagen – etwas fremd ist.
Im Text spricht Jesus mit dieser samaritanischen Frau. Das war ein dreifacher Skandal: einmal, dass Jesus einfach so mit einer Frau spricht. Außerdem war es eine samaritische Frau. Und dann war es noch eine Frau, die kein ordentliches Leben führte. Indem Jesus dort an diesem Jakobsbrunnen mit ihr sprach, trat er in verschiedenste Fettnäpfchen. Und dann wagte er noch, diese Frau um einen Gefallen bitten.
Warum macht Jesus das? Warum tritt er in diese Fettnäpfchen? Sein Ziel ist: ihr Lebensdurst soll vom lebendigen Wasser gestillt werden. An dieser Stelle war Jesus egal, dass er mit so einer Frau nicht reden sollte. Er wusste, dass sie das lebendige Wasser brauchte. Jesus kommt nicht als Besserwisser daher. Er sitzt an einem Brunnen, er ruht sich aus. Denn er war durstig von dem langen Weg und von der Hitze. Der selbst Wunder getan hat, der viele Menschen satt gemacht hat in wunderbarer Weise, der sitzt dort und kann nicht mehr. Das heißt, Jesus kennt Durst und Müdigkeit wie wir.
Nun gibt es noch ein gewisses Rätsel im Text. Was ist denn nun das lebendige Wasser, das Jesus anbietet? Für die Freunde der modernen Lebenskunst muss ich gleich sagen: Cola ist es nicht. Wir hören immer wieder im Radio: pentru sănătatea Dumneavoastră beți cel puțin 2 litri de lichide pe zi. Keine Cola, kein Wein, kein Bier, kein Kaffee. Einfach nur Wasser oder Tee ohne Zucker. Das ist für die Gesundheit und gegen den Durst unseres Leibes.
Jesus geht es um die zweite Art von Wasser: Wasser gegen den Lebensdurst, Wasser für die Seele. Was kann das sein? Haben Sie eine Ahnung? Ich denke, die Antwort klingt ganz einfach und simpel: das Wort von Jesus. Vielleicht fällt uns ein, dass man lieber Taten sehen als Worte hören will. Für Politiker jeder Art, egal wo auf der Welt, gilt das unbedingt. Besser gesagt, für jeden von uns! Man soll ja nicht immer bloß auf die anderen zeigen. Für Jesus gibt es da aber keine Einschränkung, denn seine Worte sind zugleich Taten. Wo er etwas sagt, da geschieht etwas. So wie es am Anfang der Bibel schon von Gott heißt: Er sprach und es war da. Wenn ich etwas sage, dann meinen andere leider zu Recht: na, ob das wirklich so wird? Jesu Wort ist gleichzeitig Geschehen und Tat. Wo er spricht, da gerät etwas in unserem Leben in Bewegung. Da geschieht Veränderung. Seine Worte werden zu einer Quelle für das Leben.
Was sollen wir nun mitnehmen?
Das erste: Zapfen wir die richtige Quelle an, wenn es um unseren Lebensdurst geht. Die Fans vom Oktoberfest wissen „a-zapft is“ (oder so ähnlich, ich kann nicht bayrisch), also: es ist angezapft – damit ist das Bierfass gemeint. Das erste Bierfass von sehr vielen, und dann läuft das Bier literweise und die Menschen, die das Trinken, laufen nicht mehr. Sie kriechen herum. Vielleicht sind sie auf der Suche nach einer „lebendigen Quelle“?
Suchen wir uns die richtige Quelle! Zapfen wir sie an, damit unser Lebensdurst wirklich gestillt wird.
Und beim Zweiten geht es nicht nur um uns. In einem Lied des Liedermachers Manfred Siebald heißt es: „Wer das Wasser in der Wüste kennt, der ist schuld daran, wenn Sterbende es übersehn.“
Wenn wir wissen, dass bei Jesus unser Lebensdurst gestillt werden kann, dann machen wir uns schuldig, wenn wir es anderen verschweigen. Nur weil der andere nicht unsere Sprache spricht. Nur weil er nicht zu unserer Kultur gehört. Da entdecke ich mich am meisten. Jesus Christus hat sogar mit einer Frau gesprochen, die ihm nach seiner Kultur egal sein sollte. Andere seiner Zeitgenossen haben da die Nase gerümpft und gesagt: Na schaut, dieser Jesus! Mit dem kann man nichts anfangen. Der redet mit so einer! Jesus hat mit ihr geredet, damit sie die Quelle findet, die ihr ewige Gemeinschaft mit Gott ermöglicht.
Das ist der Plan: Gottes Wort soll in alle Winkel unserer Stadt und in alle Winkel unserer Welt kommen. Möglichst viele sollen an seinem Reich teilhaben und ihren Lebensdurst bei Jesus, der Quelle, stillen.
Und der Friede Gottes, der größer ist als wir es verstehen und begreifen, bewahre uns, unsere Herzen und Sinne, alles was wir sind und haben, bei ihm – bei unserem Herrn Jesus Christus.
Predigt von Pfarrerin Christiane Schöll
gehalten am 19. Januar 2025, dem 2. Sonntag nach Epiphanias, in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt
Download: 19. Januar 2025 – 2. So. n. Epiphanias, Pfrin. Christiane Schöll .pdf
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. AMEN.
Wir hören den heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium im 2. Kapitel:
Und am dritten Tage war eine Hochzeit zu Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger waren auch zur Hochzeit geladen. Und als der Wein ausging, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus spricht zu ihr: Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter spricht zu den Dienern: Was er euch sagt, das tut. Es standen aber dort sechs steinerne Wasserkrüge für die Reinigung nach jüdischer Sitte, und in jeden gingen zwei oder drei Maß. Jesus spricht zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan. Und er spricht zu ihnen: Schöpft nun und bringt’s dem Speisemeister! Und sie brachten’s ihm. Als aber der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wusste, woher er kam – die Diener aber wussten’s, die das Wasser geschöpft hatten –, ruft der Speisemeister den Bräutigam und spricht zu ihm: „Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie trunken sind, den geringeren; du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückgehalten.“ Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat. Es geschah zu Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.
Liebe Schwestern und Brüder,
was für eine erstaunliche Erzählung. Nur der Evangelist Johannes hat sie aufgeschrieben. Bei ihm ist es das erste Zeichen, das Jesus tut, damit die Menschen seine Herrlichkeit sehen. Das erste von sieben Wundern, von denen wir bei Johannes hören. Danach heilt Jesus noch Kranke und läuft übers Wasser, vermehrt Brot und schließlich erweckt er Lazarus von den Toten. Aber was ist das für ein seltsames Wunder, das Jesus hier zum Anfang seines öffentlichen Auftretens tut? Es ist kein sehr notwendiges Wunder – niemand stirbt, wenn es keinen Wein mehr gibt. Niemand wird hier von einer schlimmen Krankheit gesund. Das Fest war schon einige Zeit im Gange und dann ging der Wein aus. Es ist auch kein sehr auffälliges Wunder. Die allermeisten Anwesenden bekommen gar nicht mit, wer den neuen Wein herbei geschafft hat.
Nur einige Diener wissen davon und die Jünger sind beeindruckt. Braut und Bräutigam treten in der Erzählung fast gar nicht in Erscheinung, aber auch ohne mehr Wein ist ihre Ehe gültig. Jesus bewahrt die Brautleute und ihre Familien allerdings vor großem Gespött. Diese Geschichte hätte noch lange die Runde gemacht, dass das die beiden sind, bei deren Hochzeit der Wein ausgegangen ist. Er bewahrt die Familien vor einer Peinlichkeit. Aber darum kann es Jesus doch nicht gehen?!
Nein, ich denke nicht. Ich möchte mich nun von einer ganz anderen Seite der Geschichte noch einmal nähern und erst am Ende auf diese Frage zurückkommen. Warum so ein seltsames Wunder? Warum wandelt Jesus Unmengen von Wasser in Wein um?
Dazu möchte ich Ihnen von einer Frau erzählen, auf die ich erst vor Kurzem gestoßen bin und die ein sehr interessantes Leben geführt hat. Sie war Französin und hieß Madeleine Delbrel. Sie hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt. Sie war eine sehr gebildete Frau hat schon im Alten von sechzehn Jahren Vorlesungen an der besten Universität von Paris gehört. Damals war sie ganz atheistisch eingestellt. Doch dann kam sie durch christliche Freunde mit dem christlichen Glauben in Kontakt und hatte schließlich ein Bekehrungserlebnis. Es muss sehr beeindruckend gewesen sein und sie hat überlegt, in ein Kloster einzutreten. Doch dann las ich über sie:
„Was sie in eine andere Richtung bewegte, war die Begegnung mit Jesus Christus in den Evangelien. Dort hat sie entdeckt, dass Jesus mitten in der Welt geblieben ist, mitten unter den Menschen, dass er das Leben der Menschen geteilt hat, die beiden Pole von Gottesliebe und Nächstenliebe zusammen halten konnte und auch seine Jünger auf diesen Weg geschickt hat. Das hat sie sehr bewegt und beeindruckt; und sie hat für sich erkannt, dass ihr Weg in diese Richtung zu gehen hatte. Sie wollte Jesus Christus mitten in der Welt nachfolgen, unter den Menschen und zugleich ganz bei Gott.“
Madeleine Delbrel ist in eine Arbeitervorstadt von Paris gezogen und hat dort unter den Menschen gelebt. Sie ist schockiert über die Lebensbedingungen dort und engagiert sich als Sozialarbeiterin für die Benachteiligten. Dabei arbeitet sie auch mit den Kommunisten zusammen und schließt enge Freundschaften.
Sie möchte auch von ihrem Glauben weitergeben und ist immer wieder enttäuscht davon, wie wenig Interesse an Fragen über Gott bei ihren Mitmenschen besteht. Aber sie bleibt dort und lebt mit den Menschen und vertraut darauf, dass Gott ihnen begegnen wird. Sie schreibt darüber: „Nicht wir haben Menschen zu bekehren. Das ist Gottes Sache, aber wir können uns schenken mit Gott in uns.“
Was hat diese Frau und ihre Geschichte nun mit der Hochzeit zu Kana zu tun? Mir ist vor allem wichtig, dass sie erkannt hat, dass Jesus in der Welt gelebt hat unter den Menschen. Er hat sich nicht zurückgezogen und irgendwo in der Einöde gebetet und hat darauf gewartet, dass die Menschen mit ihren Fragen und Nöten zu ihm kommen. Jesus ist zu den Menschen gegangen.
Er hat mit ihnen geweint, wenn sie traurig waren und er hat auch mit ihnen gefeiert, wenn es einen Anlass gab. So wie bei der Hochzeit zu Kana. In allem, was er getan hat, hat er die Wirklichkeit der Menschen mit der Wirklichkeit Gottes zusammengebracht durch sein Leben. Und genau das passiert für mich in der Hochzeit zu Kana. Jesus ist dort und feiert mit den anderen. Er trinkt Wein mit den anderen Gästen. Und als es ein Problem gibt, hilft Jesus den Brautleuten. Für Madeleine Delbrel ist es sehr wichtig, dass wir Gott in unserer Welt begegnen können. Sie schreibt darüber:
„Geht hinaus in euren Tag ohne vorgefasste Ideen, ohne die Erwartung von Müdigkeit, ohne Plan von Gott, ohne Bescheidwissen über ihn, ohne Enthusiasmus, ohne Bibliothek – geht so auf die Begegnung mit ihm zu. Brecht auf ohne Landkarte – und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist und nicht erst am Ziel. Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden, sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens. Im Glauben haben wir Gott gefunden; wir können ihn weitergeben, wenn wir uns selbst geben, und zwar hier in unserer Stadt. Es geht also nicht darum, dass wir uns irgendwohin davon machen, das Herz beschwert von der Not der anderen, wir müssen vielmehr bei ihnen bleiben, mit Gott zwischen ihnen und uns.“
Die Erzählung der Hochzeit zu Kana hat mit unserem menschlichen Leben hier und heute zu tun und gleichzeitig weist sie über dieses Leben hinaus. Ein Hochzeitsfest ist ja keine alltägliche Sache und auch der viele und sehr gute Wein ist außergewöhnlich, eben ein Wunder.
Der Wein ist ein Zeichen für das Leben, das wir einmal in der Herrlichkeit Gottes leben werden. Der Wein ist ein Zeichen für die Freude und dafür, dass bei Gott unsere Freude vollkommen sein wird. Mir gefällt es, dass Jesus bei der Hochzeit zu Kana viel mehr gibt, als das, was unbedingt nötig ist. Ein maßloses Wunder, weil Gott es auch maßlos gut mit uns meint. Jesus verbindet unsere Wirklichkeit mit Gottes Herrlichkeit, indem er Wasser in sehr viel und sehr guten Wein verwandelt. Die Hochzeitsgäste werden von Gottes Güte beschenkt und das Wunder an der Hochzeit von Kana wird so zum Vorgeschmack auf das ewige Fest bei Gott.
Ist ein Fest auch ein Bild für unser jetziges Leben, in das schon etwas von Gottes Herrlichkeit strahlt? Madeleine Delbrel hat mich auf dieses Bild gebracht. Sie schreibt:
„Lehre uns jeden Tag die Umstände unseres Menschseins anzuziehen wie ein Ballkleid […] Gib, dass wir unser Dasein leben nicht wie ein Schachspiel, bei dem alles berechnet ist, nicht wie einen Wettkampf, bei dem alles schwierig ist, nicht wie einen Lehrsatz, bei dem wir uns den Kopf zerbrechen, sondern wie ein Fest ohne Ende, bei dem man dir immer wieder begegnet, wie einen Ball, wie einen Tanz, in den Armen deiner Gnade zu der Musik allumfassender Liebe.“
Ein Fest oder ein Tanz als Bild für unser gesamtes Leben. Ist diese Idee zu einseitig? Verliert Madeleine Delbrel dabei die schwierigen Zeiten aus dem Blick und nimmt das Leben zu leicht? Ich denke nicht. Denn sie kannte schwere Zeiten. Sie hat ihren kranken Vater gepflegt, hat selbst eine schlimme emotionale Krise erlebt und hat auch als Sozialarbeiterin viel Leid gesehen und für bessere Bedingungen gekämpft. Sie war keine Träumerin mit dem Kopf in den Wolken.
Eine Hochzeit ist ja auch ein Anlass, der die schlechten Zeiten des Lebens bewusst nicht ausschließt. Wir bleiben zusammen in guten wie in schlechten Zeiten, das versprechen wir uns. Und warum feiert man nach dem Standesamt und der Kirche noch ein Freudenfest? Das hat mehrere Gründe: Wir freuen uns an der Liebe und allem Guten, das wir bis jetzt geschenkt bekommen haben. Wir wollen unsere Freude aneinander mit unseren Freunden und Verwandten teilen. Die Erinnerung an dieses Freudenfest soll uns aber auch Kraft geben, wenn einmal schwerere Zeiten kommen.
Unser Leben wie ein Fest leben jeden Tag. Wie kann das aussehen? Vor allem bei Jesus selbst, aber auch bei Madeleine Delbrel sehe ich eine Offenheit dafür, dass Gott jederzeit etwas Großartiges schenken kann. Jesus fasst keinen weitreichenden Plan, sondern er reagiert auf die Situationen, die ihm jeden Tag begegnen. So auch hier bei der Hochzeit zu Kana. Madeleine Delbrel sagt auch, wir sollen uns keinen Plan machen, keiner Landkarte und keinem Rezept folgen, sondern uns von Gott finden lassen. Beim Tanzkurs – vor vielen Jahren – habe ich gelernt, dass man sich als Tanzpartnerin führen lassen muss, sonst funktioniert es nicht. Man tritt sich auf die Füße und kann die schönen Figuren nicht gut tanzen. Wenn man sich aber auf die Führung einlässt, dann kann Tanzen sich sehr schön anfühlen.
Und mein damaliger Tanzlehrer meinte immer, dass man als Dame gar nicht gut die Figuren können müsse, wenn man einen Herr habe, der gut führen kann, könnte man eigentlich alles tanzen – naja. Wenn man sich jetzt aber vorstellt, dass Gott, der ist, der führt, dann müssten dabei großartige Dinge zu erreichen sein …
Unser Leben als Fest oder als Tanz bedeutet, nicht alles selbst zu planen, sondern offen zu sein dafür, dass Gott jederzeit auftauchen kann und sich von ihm führen zu lassen. Diese Einstellung wird uns helfen zu merken, wie oft wir uns Dinge nicht selbst erarbeiten, sondern sie geschenkt bekommen. Dann kann Freude und Dankbarkeit in uns wachsen. Und wenn wir spüren, dass wir beschenkt werden, kann uns das helfen, öfter einmal die Kontrolle über unser Leben abzugeben und uns von Gott führen zu lassen.
Vielleicht verbindet sich dann für einen Moment die Herrlichkeit Gottes mit unserer Wirklichkeit und wir gehen verändert in unseren Alltag zurück. Denn wie auf einer Hochzeit feiern wir nicht nur die Gegenwart, sondern sammeln auch Kraft für die Zukunft.
AMEN
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN
Predigt von Vikar Claudiu Riemer
gehalten am 12. Januar 2025, dem 1. Sonntag nach Epiphanias, in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt, am 80. Jahrestag der Deportation der Angehörigen der Deutschen Minderheit in Arbeitslager der Sowjetunion
Download: Predigt 12. Januar 2025, Claudiu Riemer.pdf
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!
Liebe Gemeinde,
heute gedenken wir eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte: Vor 80 Jahren wurden rund 70.000 Menschen, Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien, darunter viele Siebenbürger Sachsen, in die Sowjetunion deportiert – ein Teil unserer Geschichte, die uns bis heute prägt. Dazu möchte ich Ihnen einige Worte aus einem Rundschreiben unseres Bischofs Reinhart Guib vorlesen:
„Mitte Januar jährt sich zum 80. Mal die Deportation von rund 70.000 Seelen der deutschen Minderheit in die Sowjetunion. Rund 30.000 siebenbürgische und weitere Evangelische aus den anderen Landesteilen waren unter ihnen. Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren wurden auf der Grundlage von Listen zusammengetrieben, in Viehwaggons verfrachtet und in die Sowjetunion deportiert. Die Zwangsarbeit mussten sie in Erz- und Kohlegruben der Ukraine und des Urals, sowie in Kolchosen und Fabriken unter lebensgefährlichen Bedingungen leisten. Kälte, Hunger, Kleidungsmangel und Krankheiten waren ihre ständigen Begleiter. Mehr als 15% der deportierten Männer und Frauen starben aufgrund der unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen und wurden Opfer von Unterernährung, Krankheit, Misshandlung und Kälte.
Es gebührt sich auch nach 80 Jahren, denen, die stellvertretend für uns alle gelitten haben, und gestorben sind, und tiefe Wunden davongetragen haben, in Ehrfurcht und Andacht zu gedenken und ihnen sowie ihren betroffenen Familien mit Anteilnahme und Zuwendung zu begegnen.“
Die Worte unseres Bischofs erinnern uns daran, wie wichtig es ist, das Leid der Vergangenheit nicht zu vergessen. Doch unser Gedenken bleibt nicht nur bei den dunklen Stunden stehen. Es richtet sich im Glauben auf die Hoffnung, die uns in Christus geschenkt ist. Inmitten des Leids hat Gott ein Wort der Versöhnung und Neuschöpfung gesprochen – Worte, die wir heute in unserem Predigttext hören dürfen.
Predigttext 2. Korinther 5, 17-20:
Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Liebe Gemeinde, die Worte unseres Bischofs haben uns das Ausmaß des Leids in Erinnerung gerufen, das die Deportation vor 80 Jahren mit sich brachte. Tausende Männer und Frauen, viele von ihnen noch sehr jung, wurden aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen, verschleppt und unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt. Familien wurden auseinandergerissen, und unzählige haben diese Zeit nicht überlebt.
Es ist wichtig, dieses Kapitel unserer Geschichte nicht zu verdrängen, sondern es in das Licht unseres Glaubens zu stellen. Der Glaube, der damals vielen Deportierten Kraft gegeben hat, ist auch heute für uns eine Quelle der Hoffnung. Denn er zeigt uns: Gott hat uns in Christus nicht verlassen.
Unser heutiger Predigttext aus dem 2. Korintherbrief spricht von einer Versöhnung, die Gott selbst mit uns bewirkt hat – einer Versöhnung, die uns Frieden schenken kann, auch mitten in Zeiten des Leidens.
Paulus sagt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“
Diese Worte klingen vielleicht wie ein Widerspruch zu dem, was wir gerade gehört haben: Wie kann etwas Neues entstehen, wenn das Alte – in diesem Fall das alte Leben, die Heimat, die Familie – verloren scheint? Doch genau das ist die Verheißung, die Gott uns in Christus schenkt: Er schafft Neues, wo wir es selbst nicht können.
Wir wollen nun Schritt für Schritt diese Botschaft hören und auf sie sehen, wie sie uns gerade in schweren Zeiten Hoffnung geben kann.
- Vers, 17: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
Liebe Gemeinde, dieser Satz des Apostels Paulus gehört zu den kraftvollsten Aussagen über das, was der Glaube an Christus bewirkt. Doch was bedeutet es, „in Christus“ zu sein, und was ist mit dem „Neuen“ gemeint, das durch ihn entsteht?
1.1 „Ist jemand in Christus“
Paulus spricht hier von einer engen Verbindung mit Jesus Christus. „In Christus“ zu sein bedeutet, dass wir uns ihm im Glauben anvertrauen, dass wir unser Leben in seine Hände legen. Es bedeutet, dass Christus unser Halt ist – stärker als jede äußere Situation und jede innerliche Not. Für die Deportierten von damals war es genau dieser Glaube, der ihnen in schwierigen Umständen oft Kraft gab.
Viele von ihnen hielten sich an der Gewissheit fest, dass sie trotz aller Verluste zu Christus gehören. Sie wussten: Niemand und nichts kann uns aus seiner Hand reißen. Auch wenn das Alte – die Heimat, die Familie, die Sicherheit – zerbrochen ist, schenkt Christus etwas, das niemand zerstören kann: seine Gegenwart und seine Treue.
1.2 „so ist er eine neue Kreatur“
Paulus verwendet das Bild einer „neuen Schöpfung“. Diese Aussage hat zwei Dimensionen:
- Das Neue in unserem Inneren:
In Christus erhalten wir eine neue Identität. Wir sind nicht länger nur durch unsere Vergangenheit definiert, sei sie schmerzlich oder glorreich. In Christus sind wir Kinder Gottes – wertvoll, geliebt und mit einer Hoffnung beschenkt, die über unser irdisches Leben hinausgeht. Für die Deportierten bedeutete das, dass sie trotz der Erniedrigung und Demütigung wussten: Vor Gott sind wir nicht verloren. Wir sind seine geliebten Kinder.
- Das Neue, das Gott schafft:
Dieses Neue ist nicht allein eine innere Erneuerung, sondern ein Vorgeschmack auf die Vollendung, die Gott für die ganze Schöpfung bereithält. Es ist die Zusage, dass Gott alles Leid, allen Verlust und jede Ungerechtigkeit eines Tages überwinden wird. (Offenbarung 21,5: „Siehe, ich mache alles neu.“).
1.3 „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“
Für viele Menschen, die das Leid der Deportation erlebt haben – sei es direkt als Deportierte oder indirekt durch die Auswirkungen in den Familien und die Erzählungen der Großeltern –, scheint das Alte nie wirklich zu vergehen. Die Erinnerung bleibt, die Wunden bleiben. Doch Paulus spricht hier nicht davon, dass das Alte ausgelöscht wird, sondern dass Gott es überwindet. Das bedeutet: Unsere Vergangenheit, sei sie noch so dunkel, definiert uns nicht mehr. Sie wird von Gott verwandelt.
— In Christus ist das „Neue“ keine Verdrängung der Vergangenheit, sondern eine Verheißung, dass selbst das Schrecklichste nicht das letzte Wort hat. —
In einem Artikel las ich die Erzählung eines damals jungen Burschen aus Tschanad, dessen Eltern deportiert wurden und der jeden Abend zu seinen Großeltern zum Schlafen ging und jedes Mal alle Türen zunagelte.– um sie morgens jedes Mal aufgebrochen vorzufinden. Und der zuletzt glücklich war darüber, dass ihm Nachbarn die letzten Schweine, von mehreren Dutzend Sauen und Ferkeln, aus dem Schweinestall holten. Glücklich war der Dreizehnjährige, weil er nach dem letzten Schweineraub endlich weniger Arbeit hatte…
Wir hörten in dieser Geschichte, wie sich eine bedrückende Realität manchmal in einen Moment der Erleichterung oder sogar Hoffnung verwandeln kann – nicht durch Vergessen, sondern durch einen neuen Blickwinkel.
Paulus erinnert uns daran, dass Gott selbst diesen neuen Blickwinkel schenkt. In Christus gibt er uns die Kraft, trotz der Dunkelheit unserer Vergangenheit nach vorn zu schauen, weil er neues Leben verheißt. Es ist eine Perspektive, die Leid und Verlust nicht auslöscht, sie aber in eine Hoffnung einbindet.
- Vers, 18-19: Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
Liebe Gemeinde, diese Verse gehören zum Herzstück der christlichen Botschaft: die Versöhnung, die Gott durch Christus gewirkt hat. Sie zeigen uns nicht nur, was Gott für uns getan hat, sondern auch, welche Aufgabe sich daraus für unser Leben ergibt.
Paulus stellt klar, dass die Versöhnung nicht aus menschlicher Kraft oder Anstrengung stammt. Es ist Gottes Initiative, Gottes Geschenk. In Christus geht Gott den ersten Schritt, um die Trennung zwischen ihm und uns zu überwinden.
Gott handelt. Gott handelt gerade dann, wenn wir machtlos sind. Er ist ein wunderbarer Gott – ein Gott, der nicht aufgibt, sondern eingreift und handelt. Doch Gottes Handeln braucht Zeit, Gottes Handeln braucht Geduld, und Gottes Handeln braucht uns Menschen. Gott handelt durch uns – durch uns Menschen. Damit wir jedoch handeln können, brauchen wir Versöhnung. Diese Versöhnung finden wir in Christus, der uns mit Gott und untereinander versöhnt.
Diese Versöhnung ist die Grundlage, aus der heraus wir unser Leben gestalten können – auch im Angesicht von Schmerz und Verlust.
2.1 „Und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt.“
In diesem Amt will ich mein Leben lang bleiben. Das Amt der Versöhnung. Gott hat uns dieses Amt anvertraut. Das heißt: Wer die Versöhnung Gottes erfahren hat, ist berufen, sie weiterzugeben. Berufen – Brücken zu bauen: zwischen Generationen, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und zwischen alten Wunden und neuer Hoffnung.
Diese Verse zeigen uns, dass Versöhnung mit Gott der Anfang für alles andere ist. Wer diese Versöhnung erlebt, kann auch mit der eigenen Vergangenheit Frieden schließen – mit dem eigenen Leid, aber auch mit der Ungerechtigkeit, die einem widerfahren ist.
- Vers, 20: So sind wir nun Botschafter an Christi statt, . . .
Liebe Gemeinde, dieser Vers bringt die Botschaft auf den Punkt: Wer die Versöhnung Gottes erfahren hat, ist berufen, sie weiterzugeben. Paulus sieht sich und uns als Botschafter “in Christi Auftrag“ – oder “als Vertreter Christi”.
Ein Botschafter vertritt nicht sich selbst, sondern den, der ihn gesandt hat. Wir sprechen und handeln im Auftrag Christi. Es ist nicht unsere Botschaft, die wir weitergeben, sondern seine. Gott selbst spricht durch uns. Das ist eine große Ehre, aber auch eine große Verantwortung.
Für die Deportierten bedeutete diese Rolle oft, den Glauben und die Hoffnung trotz schwerster Prüfungen weiterzugeben. Viele von ihnen wurden durch ihren Glauben zu Botschaftern der Hoffnung für andere.
Über einen solchen Botschafter durfte ich in einer E-Mail lesen. Es ist der Großvater unseres Stadtpfarrers. Er hieß Walter Scheeser und war Kirchenvater in der Honterusgemeinde. Er verstarb 1976. Die E-Mail, die mir Stadtpfarrer Christian Plajer geschrieben hat, erzählt Folgendes:
„Er ist mit 76 ganz plötzlich an Herzversagen verstorben, niemand hatte damit gerechnet. Eher zufällig haben meine Mutter und ihre Brüder dann bei seinen Schreibsachen ein Testament von ihm gefunden. Offenbar hatte er das nicht lange vor seinem Tod geschrieben – vermutlich hatte er sowas wie eine Vorahnung; meine Großmutter erzählte, er hätte in den Tagen bevor er starb immer etwas an der Schreibmaschine zu schreiben gehabt…
Ich habe das Testament leider nicht, ich erinnere mich aber, daß es ein eindrückliches Bekenntnis des Glaubens ist.
Der größte Wunsch meines Großvaters für seine Familie war eben dieser, daß sie an Jesus Christus glauben möge bzw. dass es ihnen geschenkt sein möge, daß sie sich erfreuen können an dieser ganz besonderen Gabe des Glaubens und was sie alles Gutes im Leben bewirkt.“
Liebe Gemeinde, die Botschaft von Walter Scheeser hat tief in seiner Familie Wurzeln geschlagen und lebt bis heute in ihr weiter. Sein Enkel, unser Stadtpfarrer, ist ein lebendiges Zeugnis dieser Weitergabe des Glaubens. Er trägt die Hoffnung und den Glauben seines Großvaters weiter und ist so selbst zu einem Botschafter Christi geworden – in unserer Gemeinde und für viele andere.
Genau dazu lädt uns Paulus ein: Lasst uns die Versöhnung, die wir durch Christus erfahren haben, in unserer Welt lebendig machen – in Worten und in Taten.
Amen.
Und der Friede Gottes der größer ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Predigt von Pfarrerin Christiane Schöll
gehalten am 15. Dezember 2024, dem 3. Advent in der evangelischen Kirche in der Blumenau, Kronstadt
Download: 15. Dezember 2024 – 3. Advent, Pfrin. Christiane Schöll .pdf
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater durch unseren Herrn Jesus Christus. AMEN.
Wir hören den heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium im 3. Kapitel:
Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste. Und er kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht im Buch der Worte des Propheten Jesaja (Jes 40,3-5): „Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden, und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen.“
Der Herr segne sein Wort an uns allen. AMEN.
Liebe Schwestern und Brüder,
In den letzten Wochen erleben wir in Rumänien – nicht zum ersten Mal – eine große politische und gesellschaftliche Herausforderung. Das Ergebnis der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hat viele Menschen sehr erschreckt. Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass man die Nacht von Sonntag auf Montag vor drei Wochen kaum schlafen konnte. Jetzt wurde die erste Runde der Präsidentschaftswahlen vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt. Viele von uns schwanken zwischen Sorgen und Hoffnung. Wie wird sich die Lage nun weiter entwickeln? Es ist zu befürchten, dass die Spaltungen im Land noch größer werden und sich die Fronten verhärten. Wer wird letztlich die Macht übernehmen und dieses Land führen?
Kann eine Wende stattfinden oder führt der politische Weg erst einmal in noch größere Unsicherheiten?
In der ADZ vom Freitag schrieb die Chefredakteurin Nina May einen langen Kommentar zur politischen Situation nach den annullierten Wahlen. Auch sie redet von großen Spannungen im Land, vom Möchtegern-Präsidenten, der als Erlöser aufgetreten ist. Am Anfang ihres Artikels schreibt sie:
„Ich sitze in einem Zug mit unbekanntem Ziel, der zunehmend an Fahrt aufnimmt. Ich sehe aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus und hoffe, dass die Sonne endlich aufgeht! Finde mich stattdessen wieder in einer Achterbahnfahrt zwischen Fassungslosigkeit, Hoffnungsfunken, Enttäuschung und ja, sogar Wut!“
Zeiten der Unruhe und der Unsicherheit erleben wir Menschen immer wieder – im privaten Bereich, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene.
Unser heutiger Predigttext erinnert uns inmitten unserer Sorgen und Fragen an eine sehr entscheidende Frage: Wer soll wirklich unser Herr sein? Johannes der Täufer richtet den Blick der Menschen seiner Zeit und auch unseren Blick heute auf den, der wahrhaft regiert: Gott selbst soll König sein und Jesus Christus ist der einzige Retter, der wirklich von Gott kommt.
Bereitet dem Herrn den Weg. Das ist die Botschaft von Johannes dem Täufer. Er tritt in einer ganz bestimmten Zeit auf.
Dem Evangelisten Lukas war es sehr wichtig, auf die damalige politische Situation hinzuweisen. Denn er verwendet hier viele Wort, um zu berichten, wer zur Zeit des Johannes an der Macht war. Wenn Lukas nur hätte beschreiben wollen, in welcher Zeit Johannes gelebt und gewirkt hat, dann hätten viel weniger Worte genügt. Aber unser Text zählt viele verschiedene Machthaber der damaligen Zeit auf: vom Kaiser über Pontius Pilatus bis zu den religiösen Würdenträgern. Die Mehrheit der Bevölkerung verbindet nicht viel Gutes mit diesen Namen. Diese Machthaber stehen für Ausbeutung und Korruption. Die große Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich Erlösung von diesen Unterdrückern.
Sie warten auf den Retter Gottes, der sie befreien soll. Die Sehnsucht wächst von Tag zu Tag. Und die Unzufriedenheit auch.
Bereitet dem Herrn den Weg. Mit diesen Worten tritt Johannes der Täufer in Erscheinung. Er wird bewusst als Gegensatz zu den Machthabern der damaligen Zeit präsentiert. Er hat kein schickes Haus in der Stadt, sondern lebt unter sehr einfachen Bedingungen in der Wüste. Die Menschen sind von ihm fasziniert, weil er glaubhaft ist. Er lebt das, was er auch verkündigt. Und das hat auch uns heutzutage viel zu sagen.
Erstens vermittelt Johannes: „Nicht ich bin der Messias, sondern der Retter wird nach mir kommen. Ich bin es nicht einmal wert seine Schuhe zu binden.“ Wenn Politiker uns vermitteln, dass sie selbst die Rettung bringen, dann sollten wir diesen mit Misstrauen begegnen. Johannes stellt sich ganz anders dar als zum Beispiel die Kaiser Roms. Diesen war sehr wichtig zu betonen, dass sie selbst als Söhne Gottes der Welt die Rettung bringen. Johannes dagegen beansprucht keine Macht für sich selbst. Er will, dass Gott regiert. Gott soll unser König sein!
Zweitens sagt Johannes zu den Menschen, die zu ihm kommen: Tut Buße!
Das heißt, die Menschen sollen sich selbst hinterfragen, wo entspricht ihre eigene Einstellung und ihr Verhalten nicht dem Willen Gottes? Johannes betont, dass jeder einzelne gerecht handeln soll. Er sagt: Wer zwei Hemden hat, soll ein Hemd abgeben an jemanden, der keines hat, und wer genug zu essen hat, soll davon auch abgeben. Die Soldaten und Zöllner sollen ihre Mitmenschen nicht mehr unterdrücken und ausbeuten.
Mit seinen Worten macht Johannes die Menschen damals und auch uns darauf aufmerksam, dass Veränderung bei uns selbst anfängt. Er nimmt uns in die Verantwortung. Wir sollen uns nicht auf irgendwelche Machthaber verlassen, die für uns die Welt in Ordnung bringen. Jeder von uns kann etwas dazu beitragen, dass die Welt um uns her ein bisschen besser wird.
Wir sollen uns nicht entmutigen lassen und denken, dass wir selbst zu klein und zu schwach sind, um Veränderungen zu bringen. Denn in unseren Anstrengungen für Gerechtigkeit und Recht ist Gott immer auf unserer Seite. Er selbst kommt uns zu Hilfe!
Johannes sieht sich mit seinen Worten und seinem Verhalten in der Tradition der Propheten. Ganz besonders in der Tradition des Propheten Jesaja, den er in unserem Predigttext sehr ausführlich zitiert. Die Propheten haben versucht, den Menschen zu zeigen, was Gottes Wille ist und wo ihre Einstellungen und ihr Handeln nicht dem Willen Gottes entsprechen.
Für viele Propheten ist ein sehr wichtiges Kennzeichen, ob man eine Frau oder ein Mann Gottes ist, wie man sich gegenüber den Armen und Schwachen verhält. Sie fordern, dass man für das Recht dieser Menschen am Rande der Gesellschaft eintritt. Und oft habe sie den Machthabern ihrer Zeit vorgeworfen, dass sie eben nicht Gottes Willen tun. Wer die Armen und Schwachen ausbeutet und zu Sklaven macht, ist nicht auf Gottes Seite. Sie betonen: Wer so handelt, gefällt Gott nicht. Diese Menschen können Gott noch so viele Opfer bringen. Was sie tun, bleibt Unrecht und sie stehen Gott nicht nahe. Der wahre Gottesdienst, der Gott gefällt – so betonen viele der Propheten – ist, Recht für die Unterdrückten herzustellen.
Viele der Propheten haben große Probleme mit den Machthabern bekommen, weil sie auf Ungerechtigkeit hingewiesen haben.
Und Johannes dem Täufer ergeht es auch so. Er weist auch König Herodes auf Vergehen hin, die er begangen hat und er wird dafür von Herodes ins Gefängnis geworfen. Aber Jesus betont, dass Johannes es absolut richtig gemacht hat. Jesus sagt über Johannes:
Ja, ich sage euch: Er ist mehr als ein Prophet. Dieser ist’s, von dem geschrieben steht: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.«
„Bereitet dem Herrn den Weg“ ist nicht nur die Botschaft Johannes’ des Täufers.
Sie ist auch ein wichtiges Thema für unsere Adventszeit. Gott hat uns versprochen, dass er uns besuchen kommt. Und wir dürfen ihn innerlich erwarten. Er kann unsere Herzen berühren und uns inneren Frieden und Hoffnung schenken. Und darauf warte auch ich sehnsüchtig. Aber wenn Gott kommt, hat das auch mit der Welt um uns her zu tun. Unsere innere Einstellung hat Folgen für unser Handeln. Wir richten uns nach Gott, wenn wir fragen, was richtig und falsch ist und das hat dann auch eine politische Dimension, weil Politik zu unserem Leben in der Welt gehört.
Johannes der Täufer und die Propheten helfen auch uns, die Machthaber unserer Zeit zu hinterfragen. Sind sie auf Gottes Seite oder nicht?
Wir können uns Johannes zum Vorbild nehmen. Er hat in der Überzeugung gelebt, dass allein Gott unser König sein soll.
Wie dieses Königtum Gottes aussehen soll, hat Jesus uns besonders deutlich gezeigt. Es herrscht dort nicht Macht und Gewalt, sondern Friede, Liebe und Gerechtigkeit. Jesus geht zu denen am Rand der Bevölkerung. Er hilft den Kranken und den Armen. Er lehrt uns zu teilen und andere so zu behandeln, wie wir auch selbst behandelt werden möchten. Jesus zeigt uns, wie auch schon die Propheten und Johannes der Täufer: Gott ist ein gerechter König. Er tritt ein für die, die Unrecht erleiden, für die am Rande der Bevölkerung, für die Armen und Ausgebeuteten. Gott will, dass all diesen Menschen zu ihrem Recht verholfen wird.
Wenn wir in der Überzeugung leben, dass Gott unser König ist, dann haben auch wir den Auftrag, uns für diese Gerechtigkeit einzusetzen.
Bereit auch ich dem Herrn den Weg? Johannes der Täufer war eine ganz besondere Person und ich will mich auf keinen Fall mit ihm vergleichen. Aber während ich diese Predigt geschrieben habe, wurde mir bewusst, dass auch meine Überzeugungen schon manchmal mit der Politik in Konflikt geraten sind – allerdings nur auf komunaler Ebene:
In Politik mische ich mich nicht ein („Nu mă bag“). Das war immer das Motto meines Mannes und von mir selbst, während der Kommunalwahlen der letzten zehn Jahre, seit wir hier in Rumänien wohnen.
Wir wollten gern ganz unpolitisch unsere Ziele verfolgen. Den Kindern auf den Dörfern Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Wir wollen Kreativität fördern und das Entwickeln einer eigenen Meinung. Und wir wollen zu Frieden und Gerechtigkeit beitragen, indem wir versuchen, einen Ort zu schaffen, an dem sich Kinder unterschiedlicher Herkunft treffen, so dass sich die verschiedenen Kinder kennenlernen können. Unsere Hoffnung ist, dass so Vorurteile zwischen den verschiedenen Bevölkerungsteilen abgebaut werden. Wir haben keine politischen Aussagen gemacht und schon gar keine Aussage dafür gemacht, wen wir für wählbar halten und wen nicht. Wir wollten ganz bewusst niemanden beeinflussen. Und doch war es bis jetzt bei jeder Wahl so, dass sich Politiker von uns angegriffen gefühlt haben.
Uns wurden während der letzten Wahlperioden schon die absurdesten Vorwürfe gemacht. Einmal wurde behauptet, wir wollten die ungarisch-reformierte Kirche und auch den Friedhof von Cobor kaufen und dann von allen Gemeindegliedern Gebühren verlangen, die den Gottesdienst oder den Friedhof besuchen möchten. Ein anderes Mal wurde uns vorgeworfen, wir hätten eine der Wahlurnen geklaut, um die Wahlen zu behindern!! Jedes Mal vor den Wahlen ließen viele Eltern ihre Kinder nicht mehr zu uns ins Programm kommen.
Wenn ich unseren heutigen Predigttext höre und mir das Leben Johannes des Täufers ansehe, wird mir immer klarer, warum wir doch jedes Mal hineingezogen wurden in die Politik:
Johannes hatte viele Bewunderer für sein Auftreten und auch viele Feinde. Bei ihm wird ganz deutlich, wenn wir so leben, dass Gott unser König ist, dann kritisiert das diejenigen, die nur Macht für sich selbst wollen. Gott unser König wünscht sich Gerechtigkeit und Frieden für Arme und Reiche, für Schwache und Starke. Wenn wir diesem König den Weg bereiten, dann passiert nicht nur in unserer inneren Einstellung etwas. Unsere Einstellung hat auch Auswirkungen auf unser Leben, und zu diesem Leben gehört immer auch eine politische Dimension. Denn wir sind ein Teil unserer Gesellschaft.
Wenn wir in der Überzeugung leben, dass nur Gott unser König sein soll, dann müssen sich auch die Machthaber dieser Welt an den Maßstäben Gottes messen lassen. Und dann fühlt sich so mancher – wahrscheinlich zu Recht – kritisiert.
Bereitet dem Herrn den Weg. Das ist ein Aufforderung, die viele Folgen hat für unser Leben und die uns Verantwortung überträgt. Aber in dieser Aufforderung schwingt auch schon die wunderbare Verheißung mit, die uns Johannes am Ende unseres Predigttextes zuspricht:
„Und alles Fleisch wird das Heil Gottes sehen!“
Trotz aller Unsicherheiten damals wie heute dürfen wir wissen: Unser Herr regiert. Sein Heil ist größer als jede politische Krise, und sein Reich ist unerschütterlich. AMEN.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN.