einander zudrehen
von Eugen Gomringer
einanderzudrehen und
aufeinandereinstellen
ineinandergreifen und
einandermitteilen
miteinanderdrehen und
voneinanderlösen
auseinanderkreisen und
einanderzudrehen
aufeinandereinstellen und
ineinandergreifen
einandermitteilen und
miteinanderdrehen
voneinanderlösen und
auseinanderkreisen
einanderzudrehen und
Beschäftigt man sich mit Literatur, fragt man sich irgendwann mal nach dem Sinn der Dichtung. Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Denn je einfacher und komprimierter ein Text daherkommt, desto verschlüsselter wirkt er bei jeder neuen Lektüre. Zufriedenstellende Antworten erhält man, wenn man fragt: Welchen Sinn hat dieses Gedicht/dieser Text für mich?
Nun stehe ich als Leser(in) vor den obigen sechzehn Versen, wobei mein erster Eindruck ist, dass die erste Zeile die Titelfunktion übernimmt und die letzte als Schluss gedeutet werden kann. Die weiteren Verse können jeweils zu zweit als Strophen gelesen werden. Zudem stellt der Text eine besondere Schlichtheit zur Schau. Die Verse bestehen de facto aus sieben sich wiederholenden Verben, die eingeübte Bewegungen wie in einem Reigen suggerieren: „einanderzudrehen, aufeinandereinstellen, ineinandergreifen, einandermitteilen, miteinanderdrehen, voneinanderlösen, auseinanderkreisen.“
Beim ersten Lesen denke ich an zwei Menschen, die miteinander in Beziehung stehen. Genauer begreife ich die Aussage als ein Paar, das in Offenheit und Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen, mit Einfühlungsvermögen, aber unter Umständen auch mit der nötigen Distanz seine Beziehung aushandelt. Dabei fällt mir die kreisende Dynamik auf. Bei der zweiten Lektüre denke ich an einen Reigen, in dem die Tanzenden Reihen bilden, paarweise hintereinander, voreinander oder nebeneinander stehen, sich als Paar im eigenen Rhythmus bewegen und gleichzeitig mit der Gesamtgruppe abstimmen. Mir schwebt das Prinzip eines komplexen Systems-im-System vor und, dass man sowohl als Einzelgänger als auch als Paar, eine derartige komplexe Struktur weder hervorbringen, noch tragen kann.
Gomringer veranschaulicht das Modell einer harmonischen Gemeinsamkeit – dieser Sinn ergibt sich mir bei der dritten Lektüre. Sollte sich jemand nicht an die eingeübten/tradierten Gesten halten, wird das Getriebe beschädigt, die Beziehungsdynamik gestört, sodass die Harmonie in eine sich wellenförmig im ganzen System ausbreitende Dissonanz umschlägt.
Bedeutet das vielleicht, dass man nicht aus der Reihe tanzen sollte? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Wie eingangs behauptet, scheint der Text sich durch seine Auslegung zunehmend zu verschlüsseln. Man sucht nach dem Sinn, und je tiefer man gräbt, desto unverständlicher wird er? Ein Paradox! Aber es stimmt, denn verdichtete Inhalte setzen auf Mehrdeutigkeit, die durch die eigene Lektüre kontextualisiert und disambiguiert wird.
Dass sich Individualismus destruktiv auswirken kann, das lese ich des Weiteren in diesem Gedicht. Gleichzeitig lese ich aber auch, dass starrer Kollektivismus ebenso fatale Folgen haben kann. Es geht nicht darum, den eigenen Willen durchzusetzen, es geht aber auch nicht darum, Andersartigkeit durch Gemeinschaftsdruck auszugrenzen. Ich verstehe, dass es darum geht, ungleiche Positionen für ein Gemeinschaftswohl zu harmonisieren.
Eine weitere Bedeutung, die sich für mich ergibt, ist die Art der Stellungnahme zur Welt. Die Welterfahrung, so wie ich sie dem Text entnehme, setzt nicht primär Weltaneignung/-beherrschung voraus, sondern vielmehr Weltanverwandlung. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von emotionalen bzw. existentiellen Unterschieden in der Art und Weise, wie wir die Welt erfahren: Will man die Welt beherrschen oder will man sie sich anverwandeln? Gomringers Gedicht versinnbildlicht die Strategie der Welterfahrung durch Anverwandlung, was auch bedeutet, dass sich der Individualismus „nach den Maßgaben der Vernunft oder der Natur oder nach den Erfordernissen des Gemeinwohls“ bestimmt. Daher nimmt diese Weltposition Rücksicht auf die umliegenden Positionen.
Schließlich frage ich mich, ob ich nicht zu viel in diesen Text hineingelesen habe. Vielleicht ist doch nur ein einfacher Reigen gemeint? Umberto Eco weist dem Leser eine wesentliche Rolle im Prozess der Bedeutungserstellung zu. Einen Text richtig oder falsch auszulegen, ist bei der eigenen Lektüre weniger relevant. Relevant ist die Beziehung, die man selbst zum Text aufbaut: Vibriert der Draht zum Text oder bleibt er stumm? Relevant ist ebenso die eigene Sinnkonstruktion, was wiederum in die Grundfrage übersetzt werden kann: Welchen Sinn ergibt Eugen Gomringers Gedicht für Sie?
Prof. Dr. Delia Cotârlea
Transilvania-Universität Kronstadt
Philologische Fakultät
Department für Literatur und Kulturwissenschaft
- Eugen Gomringer (geb. 20. Januar 1925 in Bolivien) ist ein bolivianisch-schweizerischer Schriftsteller. Er gilt als Begründer der Konkreten Poesie und hat überwiegend in Deutschland gewirkt.